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Aus: Ausgabe vom 10.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Palästina

»Unser Lager, unsere Festung«

Westbank: Wie das Flüchtlingslager Dschenin zu einem Symbol des Freiheitskampfes der Palästinenser wurde
Von Mathias Dehne
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Steine gegen Panzer: Widerstand gegen Einmarsch der israelischen Armee in Dschenin am 23. Februar 2025

Dschenin hat zuletzt große internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Um den Ort im Norden der Westbank gruppiert sich bewaffneter Widerstand gegen Apartheid und Siedlerkolonialismus. Im Lied »Unser Lager, unsere Festung« bezeichnet Sänger Ibrahim Al-Ahmad das Flüchtlingslager Dschenin als »Kleingaza« und huldigt dem revolutionären Geist von Bewohnern und Militanten der »Dschenin Brigade«, einem Feldbündnis aus Al-Kuds-Brigaden, Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden und Al-Kassam-Brigaden.

Die Aufstände seit 2000

Der Metapher eines »Kleingazas« wohnt eine immense Bedeutung inne: Sie beschreibt, wie vom Flüchtlingslager Dschenin seit Jahrzehnten bewaffneter und kultureller Widerstand ausgeht. Auch zeigt sie, wie das Lager nicht nur einmal blinde Zerstörungswut der israelischen Besatzungsarmee durchlebte – und seine Bewohner von neuem begannen. Während der Zweiten Intifada erlebte das Lager das Wiederaufleben und den Aufstieg der Palästinensischen Bewegung Islamischer Dschihad (PIJ) zur drittgrößten bewaffneten Fraktion. Wie die Hamas sicherte sich auch die PIJ über die Zeit größere Unterstützung in der palästinensischen Bevölkerung. Von Januar 2001 bis Januar 2006 waren es im Schnitt 10 Prozent, was in der Ablehnung des Friedensprozesses und der Befürwortung des bewaffneten Kampfes begründet war.

Die Zweite Intifada war die Zeit der sogenannten Märtyreroperationen. In dieser Zeit wurden bis zu 28 Selbstmordattentate – rund ein Fünftel aller Anschläge – von Dschenin aus geplant und durchgeführt. Sie trafen mehrheitlich Zivilisten. Der Großteil der Anschläge wurde vom militärischen Arm der PIJ, den Al-Kuds-Brigaden, durchgeführt. Ebenso eine Rolle spielten die säkularen, der Fatah nahestehenden Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden rund um Zakaria Zubeidi, genauso wie die Al-Kassam-Brigaden der Hamas. Als Folge erlebte das Flüchtlingslager im April 2002 während der Schlacht von Dschenin seine bis dato schlimmsten Tage. Nach UN-Angaben wurden 150 Häuser zerstört und viele mehr unbewohnbar zurückgelassen. 52 Palästinenser, die Hälfte davon Zivilisten, und 23 israelische Soldaten starben. Später wurden Berichte über Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Die israelische Armee nutzte gezielt Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Mit finanziellen Hilfen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gelang der Wiederaufbau des Lagers.

Die Unity-Intifada entfachte eine neue Welle des Widerstandes in der Westbank. Dieser historische Moment sorgte für eine Einheit über einstige politische Trennlinien hinweg – in Dschenin, Nablus oder Tulkarem. In den Jahren 2021 bis 2023 richteten sich eine Vielzahl der Operationen der Dschenin-Brigade gegen Militärcheckpoints, illegale Siedlungen oder kürzere Razzien der Besatzungstruppen im Lager. Im Juli 2023 schließlich stürmte diese das Lager. Laut Menschenrechtsorganisation B’Tselem sorgte Operation »Haus und Garten« für 48 Stunden der Gewalt mit über 100 Verletzten, dem Tod von 12 Palästinensern sowie der Zerstörung von Infrastruktur und Häusern, die 57 Familien beherbergt hatten. Operative Ziele von politischer Seite, »Dschenin als sicheren Hafen für Militante zu beseitigen«, standen im Widerspruch zur Darstellung der Streitkräfte von einer »begrenzten Operation gegen Terrorinfrastruktur«. Der ultrarechten Regierung sei es um eine »Show für Siedler« gegangen, wie die linksliberale israelische Zeitung Haaretz berichtete.

Dschenin heute

Im Lager Dschenin lebten nach Angaben des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) etwa 24.000 Menschen. Doch leider hat die Kleingaza-Metapher auch Einzug in die Narrative von Israels rechter Mehrheit gehalten. Mit dem Begriff der »Gazaifizierung« werden Ängste deutlich, dass von Dschenin eine ähnliche Bedrohung für die israelische Sicherheit ausgehen könne wie von Gaza. Gleichzeitig soll der antikoloniale Kampf der Dschenin-Brigade mit aller Härte bekämpft werden: »Wenn Dschenin sich entscheidet, sich wie Gaza zu verhalten, wird es mit ähnlichen Konsequenzen konfrontiert werden.« Es handelt sich um nicht weniger als genozidale Phantasien, die Meir Ben-Shabbat, Leiter des Misgav-Instituts für nationale Sicherheit und zionistische Strategie, in der rechten Zeitung Israel Hajom darlegte.

Diese Äußerungen sind keine Worthülsen – sie sind längst im politischen Kurs angelangt. Seit Beginn des Jahres wütet die Operation »Eiserne Wand« der israelischen Streitkräfte über der Stadt. Dem Medienkomitee im Lager Dschenin zufolge setzt Israel seine Aggression mit Razzien, Verhaftungen und umfangreichen Zerstörungen auch den siebten Monat in Folge fort. 70 Prozent des Lagers wurden zerstört, über 650 Gebäude sind dem Erdboden gleichgemacht, das Lager in neue Viertel fragmentiert und Bewohner vertrieben worden. Der israelische Journalist Gideon Levy beschreibt dieses Vorgehen in Haaretz als »besonders abscheuliches Kriegsverbrechen«. Es ist vollkommen irrelevant, dass im Lager ein beliebtes Theater, das Freiheitstheater, mit Aufführungen für Erwachsene und Kinder stand oder dass Projekte wie die »Not to Forget 2002«-Assoziation psychologische Grundfürsorge für Frauen und Kinder leisten. Die Situation in Dschenin gleicht bereits jetzt in mancher Hinsicht der im Gazastreifen. Doch die großen Lücken, die Getötete hinterlassen, würden immer wieder gefüllt, wie die Dschenin-Brigade verlauten lässt.

Hintergrund: Unity-Intifada

Nach der prominenten Rolle Dschenins in der Zweiten Intifada wurden in den Folgejahren die lokalen bewaffneten Gruppen deutlich geschwächt. Eine jüngere Generation Palästinenser wuchs im Schatten der Zweiten Intifada auf. Ihr Alltag war durch Israels Apartheidsystem von Checkpoints und Sperranlagen gezeichnet. Zwar kam es bei den Kriegen gegen Gaza immer wieder zu Protesten in der Westbank, doch die drohenden Zwangsräumungen palästinensischer Familien in Scheich Dscharrah (Ostjerusalem) und die Polizeigewalt auf dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee am 7. Mai 2021 während des Ramadan waren ein Katalysator. In der Folge starteten die Al-Kassam-Brigaden die Operation »Schwert von Jerusalem« und feuerten Tausende Raketen auf Israel, das mit Angriffen aus der Luft reagierte. Die Ereignisse führten zu einer seltenen gleichzeitigen Mobilisierung in Gaza, der Westbank, Ostjerusalem und arabischen Städten in Israel, der »Unity-Intifada«.

Wie das Resistance News Network berichtete, führte der 1996 im Flüchtlingslager Dschenin geborene Jamil Al-Amouri in diesem Klima einen Protestzug für Gaza an. Al-Amouri hatte zuvor sein Auto verkauft, das ihm den Lebensunterhalt sicherte, um sich ein Gewehr zuzulegen. In Anspielung auf die Schlacht von Dschenin taufte er dieses auf den Namen »Nisan« (arabisch für April) und führte eigenhändig Operationen gegen die israelische Armee durch. Zur Gründung der Dschenin-Brigade sei er später im Zuge der Proteste von Familie und Freunden gedrängt worden. Aus einer Zelle von vier wurden acht Militante, und sie entwickelte sich weiter. Al-Amouri selbst erlebte den Aufstieg »seiner« Dschenin-Brigade nicht mehr. Er geriet am 10. Juni 2021 in einen Hinterhalt der Besatzungstruppen, der ihn sein Leben kostete.

Für die neuen Gruppierungen in der Westbank wie die Dschenin-Brigade spielt es dabei keine Rolle, ob Mitglieder aus säkularen oder islamischen Bewegungen stammen. »Kämpfer der Al-Kassam-Brigaden, der Al-Aksa-Märtyrerbrigaden oder der Volksfront sind alle gleich. Solche Überlegungen sollten bei nationalen Bemühungen und Widerstand keine Rolle spielen«, wie Akram Al-Ajouri (PIJ) in einer Al-Dschasira-Dokumentation äußerte. Grundlage hierfür ist eine stark antikoloniale Ausrichtung: Für die PIJ ist Israel nur der verlängerte Arm westlicher Kolonialinteressen, um die wirtschaftliche, politische und militärische Vorherrschaft in der islamischen Welt und im gesamten globalen Süden zu bewahren, wie der Historiker Erik Skare sagte. Die PIJ ist so ein zentrales Bindeglied in Dschenin – gerade jetzt im Zuge einer neuen Welle des Siedlerkolonialismus. (md)

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