»Die Gefahr besteht in der Wiederholung eines bekannten Drehbuchs«
Von Martin Dolzer
Am 28. September finden in der Republik Moldau Parlamentswahlen statt. Wie ist die politische und soziale Lage vor den Wahlen?
Die Wahlen in der Republik Moldau finden vor dem Hintergrund einer ausgeprägten Polarisierung statt, die anhand von geographischen und sozioökonomischen Grenzen sichtbar wird. In den Städten, insbesondere unter jüngeren Wählern der Mittelschicht, und in der Diaspora hat die regierende Partei der Aktion und Solidarität, PAS, unter Präsidentin Maia Sandu starken Rückhalt. Ihre Programmatik basiert auf einer proeuropäischen Vision. Außerhalb der städtischen Zentren, insbesondere in Gagausien und Transnistrien, ist die Skepsis gegenüber dem Kurs der Regierung weit verbreitet. Diese Regionen identifizieren sich sprachlich, kulturell oder wirtschaftlich stärker mit Russland.
Zwei strukturelle Gegebenheiten verstärken diese Kluft. Gagausien hat eine gewisse Autonomie und ein klar ausgeprägtes politisches Profil; zweitens handelt Transnistrien als selbsternanntes unabhängiges Gebiet. Beide Regionen sind seit langem Brennpunkte in bezug auf Moldaus Staatlichkeit. Politisch war das Land eines der ersten, das mit der Dynamik der »Farbenrevolutionen« konfrontiert war und auf diese Weise prowestlich ausgerichtet werden sollte. Soziopolitisch ist das Ergebnis davon ein brüchiges Gleichgewicht: ein proeuropäisches liberales Projekt an der Macht, das mit tiefverwurzelter Enttäuschung über Misswirtschaft, Korruption und, insbesondere außerhalb der Großstädte, mit der Wahrnehmung konfrontiert ist, dass die Regierung nur zum Vorteil eines Teils der Bevölkerung des Landes regiert.
Welche Parteien haben die größten Chancen, einen hohen Stimmenanteil zu erzielen?
Die PAS bleibt auf dem Papier die größte Einzelpartei, aber ihr Vorsprung schwindet angesichts der Wut über die Lebenshaltungskosten und weil versprochene Reformen nicht zu einer materiellen Verbesserung geführt haben. Im Gegensatz dazu hat sich das neu gegründete Bündnis »Für Moldau« schnell zum wichtigsten alternativen Pol entwickelt. Es handelt sich um eine Koalition mit einem linksgerichteten Kern und einer konservativ-sozialen Haltung in einigen sozialen Fragen. Sie betont die staatliche Souveränität, die militärische Neutralität, die Ablehnung des Beitritts zu Militärbündnissen wie der NATO und »ausgewogene« Beziehungen sowohl zum Westen als auch zum Osten. Zu dem Bündnis gehören erfahrene Politiker wie der ehemalige Premierminister Vasile Tarlev von der Partei »Zukunft Moldaus« und die gagausische Politikerin Irina Vlah von »Herz Moldaus«, wobei letztere ihre Partei auf einer linkskonservativen Linie positioniert und sich für diplomatische Neutralität einsetzt. Die Kommunisten und Sozialisten, die sich im BECS-Block zusammengeschlossen haben, bilden das Rückgrat dieser Koalition unter den ehemaligen Präsidenten Vladimir Voronin und Igor Dodon. Eine eigenständige prorussische Gruppierung, der mit Ilan Șor verbundene Parteienblock »Victorie«, wurde von den Wahlen ausgeschlossen.
Haben Pro-EU-Parteien durch die Angleichung an Anforderungen der Europäischen Union Moldawien in eine Art Kolonie verwandelt?
Die EU unternimmt schon lange den Versuch, ihren Einfluss nach Osten auszuweiten. Brüssel hat deshalb alles auf Maia Sandu und ihre liberale PAS gesetzt. Hinter den dazugehörigen Schlagworten »Integration« und »Modernisierung« verbirgt sich jedoch das bekannte Muster kapitalistischer Expansion: Erschließung neuer Märkte für westliche Konzerne, Unterwerfung der lokalen Industrie und Landwirtschaft und Verwandlung einer souveränen Nation in einen Spielball im Konflikt mit Russland. Die Nachteile wirken sich aus: einschneidende Strukturreformen und Sparmaßnahmen im Rahmen der Austeritätspolitik, die eine fragile Wirtschaft weiter belasten. Für EU-Mitglieder, allen voran Deutschland, könnte die Aufnahme eines Staates, der mit ungelösten innenpolitischen Krisen belastet ist, erhebliche finanzielle und politische Kosten mit sich bringen, wenn der Beitritt vorangetrieben wird, ohne die Probleme der internen Spaltungen Moldawiens zu lösen. Selbst liberale EU-Befürworter wie der Bürgermeister von Chișinău, Ion Ceban, werfen Sandu zudem Unterschlagung vor und beschuldigen sie, die Antikorruptionsrhetorik als Waffe gegen ihre Gegner einzusetzen. Ein Paradox ist, dass aus Moldawiens liberaler Elite viele bereits rumänische EU-Pässe besitzen und ihr Vermögen in anderen Ländern lagern. Eine EU-Mitgliedschaft mit strengeren Regeln für Korruption und Kapitalflüsse würde ihre Netzwerke zur Bereicherung untergraben. Ein solches Geschäft ist der Verkauf von EU-Pässen, die offen beworben werden, zum Beispiel in der Ukraine.
Welche Wirtschaftssektoren gibt es in Moldawien, und wie haben sie sich in letzter Zeit aus welchen Gründen verändert?
Durch die Abhängigkeit von importiertem Erdgas haben sich in den letzten zwei Jahren die Gaspreise vervierfacht, und auch die Heiz- und Stromkosten sind drastisch gestiegen, was zu sozialen Unruhen geführt und die politische Spaltung vertieft hat. Die moldauische Wirtschaft umfasst mehrere Schlüsselbranchen: Landwirtschaft, Industrie – einschließlich Fertigung und Lebensmittelverarbeitung –, Dienstleistungen – insbesondere IT und Telekommunikation – und Energie. In den letzten Jahrzehnten haben sich aufgrund des Übergangs von einer sowjetischen Planwirtschaft zu einem marktwirtschaftlichen System sowie aufgrund globaler wirtschaftlicher Zwänge und innenpolitischer Entscheidungen einschneidende Änderungen vollzogen.
Die PAS-Regierung hat im Rahmen der Integration in die EU die Diversifizierung der Exporte als Priorität vorangetrieben. Die Landwirte hatten Schwierigkeiten, EU-Standards zu erfüllen, was zu höheren Kosten und einer geringeren Wettbewerbsfähigkeit führte. Da die Regierung zudem keine angemessenen Subventionen und Infrastrukturinvestitionen bereitstellte, ist ein Großteil der Landwirte in eine prekäre Lage geraten, was sich in Protesten in Chișinău niederschlug. Die wirtschaftliche Stagnation im Jahr 2024 und eine steigende Armutsquote zeigen, dass die PAS die Angleichung an die EU über die innenpolitischen Bedürfnisse stellt. Auch die anhaltenden Auswirkungen des Bankbetrugskandals von 2014 haben das Vertrauen in die Regierung untergraben. Zudem wird die Korruption in der öffentlichen Verwaltung nicht bekämpft.
Gibt es derzeit Repressionen gegen politische Akteure und Wählergruppen, die eher prorussisch eingestellt sind?
Es gibt deutliche Anzeichen für selektiven Druck. Die Entscheidung der Wahlbehörden, den »Victorie«-Block wegen Verstößen gegen die Finanzierungsvorschriften auszuschließen, hat eine bedeutende prorussische Kraft aus dem Wahlkampf entfernt. In Gagausien wurde die Inhaftierung von Evghenia Guțul wegen angeblicher Verstöße gegen die Wahlkampffinanzierungsvorschriften weithin als politisch motivierte Maßnahme wahrgenommen. Kritiker der Regierung werden sehr häufig als »Kremlagenten« gebrandmarkt, was ein Umfeld schafft, in dem oppositionelle Stimmen delegitimiert und eingeschränkt werden.
Wie ist die Lage in Transnistrien?
Transnistrien bleibt ein vom Rest Moldaus getrenntes politisches und soziales Universum mit einer ausgeprägten prorussischen Ausrichtung und minimalem Vertrauen in die Regierung. Die unmittelbare Lebensrealität ist hart: Während der jüngsten Energiekrise griffen die Bewohner zum Heizen massenhaft zu Holz. Die Unzufriedenheit in Transnistrien spiegelt die allgemeine Ablehnung der Zentralregierung in den ländlichen Gebieten wider.
Besteht die Gefahr, dass Pro-EU-Kräfte, unabhängig davon, ob sie gewinnen oder verlieren, das Land in eine Situation führen könnten, die der Ukraine nach dem Maidan ähnelt?
Die Gefahr besteht weniger in einer exakten Wiederholung als vielmehr in der Wiederholung eines bekannten Drehbuchs: polarisierende Sprachpolitik, eine Politik, bei der der Sieger alles bekommt, und die Darstellung von Dissens als ausländische Subversion. Die PAS-Regierung hat bereits Schritte unternommen, um Moldauisch – also Rumänisch – zur einzigen Amtssprache in einem mehrsprachigen Staat zu erklären, was von Nationalisten begrüßt wurde. Einige EU-Regierungen unterstützen die PAS mit aller Macht. Wenn eine umstrittene Wahlverwaltung und Diasporadynamiken wie bei den letzten Abstimmungen zu einem als verzerrt wahrgenommenen Ergebnis führen, könnten Voraussetzungen für eine eskalierende Konfrontation gegeben sein.
Wie könnte eine positive Entwicklung für Moldawien aussehen, und wie könnte sie erreicht werden?
Moldau braucht einen Weg, der Eskalation gegen Gleichgewicht eintauscht. Konkret bedeutet das: ein strategisches Bekenntnis zur militärischen Neutralität und eine Außenpolitik, die ein pragmatisches Gleichgewicht zwischen Brüssel und Moskau anstrebt. Einen innenpolitischen Neustart, bei dem die Souveränität und die institutionellen Kapazitäten Vorrang vor Lagerpolitik haben. Die umfassende Bekämpfung von Korruption, die Wiederherstellung des Vertrauens in die öffentlichen Gerichte und die Gewährleistung, dass die Zentralregierung in vernachlässigten Regionen wie Gagausien und Transnistrien konkrete Dienstleistungen erbringt. Und einen politischen Pakt, der die Risiken eines Machtwechsels verringert: kein »Alle Probleme sind Russlands Schuld« und kein »Alle Lösungen kommen von der EU« mehr. Die Allianz »Für Moldau« hat ihr Programm genau auf diesen Mittelweg ausgerichtet – Neutralität, Souveränität, Konservatismus traditioneller Werte und gleichberechtigte Beziehungen zu Ost und West.
Kamran Gasanow ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Russischen Universität der Völkerfreundschaft in Moskau.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (9. September 2025 um 10:34 Uhr)Auch Moldawien ist mal wieder ein weiterer Beweis dafür, dass es auf Dauer in Europa keinen Frieden ohne, geschweige denn gegen Russland geben kann. Aber genau den hat das westliche Großkapital stets zu verhindern gewusst. Und es wird auch künftig alles tun, um eine friedliche Koexistenz aller Völker Eurasiens und deren Souveränität auch weiterhin zu verhindern.
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