»Das löst kein Problem, sondern schafft welche«
Interview: Gitta Düperthal
Der »Freiheitsfonds« setzt sich für die Entkriminalisierung des Fahrens im ÖPNV ohne Ticket ein. Am Montag haben Sie 101 Menschen aus der Ersatzfreiheitsstrafe befreit. Warum an diesem Tag?
Wir haben unsere Gefangenenbefreiung am 1. September 2025 durchgeführt, weil an diesem Tag vor 90 Jahren während der Nazizeit das Gesetz eingeführt wurde, das ein – im Beamtenjargon – »Erschleichen von Leistungen« unter Strafe stellt: Für Fahren ohne Ticket in Bus und Bahn kann eine Geldstrafe verhängt werden oder ersatzweise bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe. Bis heute ist dies Teil des deutschen Strafgesetzbuchs.
Wie haben Sie die Gefangenen ausgewählt?
Uns vom »Freiheitsfonds« erreichen ständig Anfragen aus Gefängnissen in ganz Deutschland. Gefangene können schwer direkt Kontakt aufnehmen, weil sie in Haft weder Handys noch Zugang zum Internet haben. Nur wenige schreiben Briefe. Meist läuft alles über Beamtinnen und Beamte der Justizvollzugsanstalten. Sie verstehen ihren Job anders, als vom Staat verfolgte, in Armut lebende Menschen für eine Lappalie einzusperren: weil sie Tickets im Wert von drei oder vier Euro nicht zahlen konnten. Für uns zählt dann, ob wir genug Spendengeld haben und wann unser nächster Stichtag ist, zu dem wir freikaufen können. Dann kontaktieren wir entsprechende Zahlstellen, um die ungerecht inhaftierten Menschen zu befreien. Der Staat, der diese Gesetzgebung zulässt, lässt uns über seine Beamten bitten: Könnt ihr nicht mit Spendengeldern Abhilfe schaffen? Das ist ein marodes System!
Wieviel Spendengeld benötigten Sie?
Beim vorherigen Gefangenenfreikauf haben wir für 101 Personen den immensen Betrag von insgesamt etwa 100.000 Euro eingesetzt. Die Spender sind sich bewusst: So darf es nicht weitergehen. Wer Geld hat, kann sich freikaufen; arme Menschen müssen in den Knast. Der Staat zahlt allerdings viel mehr, um diese Menschen zu verfolgen: Jährlich kostet es 120 Millionen Euro, die Strafen durchzuführen. Involviert sind Staatsanwaltschaft, Gerichte, Polizei und JVA. Einen Menschen in Haft zu halten kostet pro Tag etwa 200 Euro. Mit jedem Freikauf sparen wir den Steuerzahlern viel Geld.
Wie drastisch sind die Strafen?
Im Schnitt beträgt eine Haftstrafe 74 Tage. Ist eine Freiheitsstrafe verhängt und keine Ersatzfreiheitsstrafe, können wir nicht freikaufen. Der Staat greift für ein Armutsdelikt zum schärfsten Mittel, das ihm zur Verfügung steht: zum Beispiel zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe für einen Obdachlosen in NRW. Das Gesetz löst kein Problem, sondern schafft welche. Selbst wenn jemand wegen Fahrens ohne Ticket bereits im Gefängnis saß, kann er ja den Grund dafür nicht abstellen: Derjenige hat weiterhin kein Geld.
Was sagen Sie Befürwortern der Bestrafung dieser Menschen?
Der Ehrliche sei der Dumme, heißt es aus der Richtung. Aus unserer Sicht sind Menschen dumm, die das behaupten. Das Fahren ohne Ticket ist ein kleines Vergehen. Dafür gibt es das Zivilrecht. Inkassobetriebe treiben erhöhtes Beförderungsentgelt in Höhe von 60 Euro ein. Betriebe des öffentlichen Nahverkehrs profitieren nicht, wenn Menschen hinter Gittern landen. Selbst, wenn man soziale Aspekte außen vorließe: Eine Gefängnisstrafe ist rein ökonomisch Quatsch.
Was fordern Sie und von wem?
2024 überlegte der damalige Justizminister Marco Buschmann von der FDP, den Straftatbestand in eine Ordnungswidrigkeit zu ändern. Zur Umsetzung des Gesetzentwurfs kam es wegen des Bruchs der Ampelregierung nicht. Wir fordern nun Bundesjustizministerin Stefanie Hubig auf, das veraltete Gesetz ersatzlos zu streichen. Es muss abgeschafft werden, weil es eines Rechtsstaats unwürdig ist. Die SPD, der sie angehört, trat vor der Wahl dafür ein. Derzeit aber schweigt die Ministerin dazu. Die SPD trägt als Teil der Regierung Verantwortung. Sie muss sich durchsetzen. Denn jedes Jahr gehen 9.000 Menschen wegen dieser Lappalie in den Knast. Und: Hier kann man im Staatshaushalt sehr gut sparen.
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