Die Krise nutzen
Von Jörg Kronauer
Im Westen ist es ein abgenutzter, oft zynisch eingesetzter Gemeinplatz: dass in jeder Krise auch eine Chance stecke. In China hingegen ist der Gedanke der Sprache inhärent: Das Wort für Krise, wéijī, setzt sich aus den Schriftzeichen für »Gefahr« (wéi) und für »Gelegenheit« (jī) zusammen. Wer lesen kann – und das können in der Volksrepublik ja fast alle –, kennt den inneren Zusammenhang. Für Beijing liegt es aber ohnehin auf der Hand, die aktuelle globale Krise zu nutzen zu suchen, um einem seiner Ziele näherzukommen: nämlich die Weltordnung zu durchbrechen, die der Westen zementiert hat und die ihrerseits die Dominanz des Westens sicherstellt. Die Ordnung, die es vorsieht, dass Nordamerika und Europa den Gang der Dinge diktieren und der Rest der Welt, der globale Süden, diesen Grundsatz nicht in Frage stellt. Die Krise, die die Welt heute immer stärker erfasst, ist genaugenommen eine Krise der westlichen Dominanz.
Denn der Westen und in besonderem Maße die Vereinigten Staaten, mit einem Rückgang ihrer ökonomischen, also auch ihrer politischen und militärischen Macht konfrontiert, haben begonnen, sich abzuschotten, haben den Machtkampf gegen ihre Hauptrivalen – an zentraler Stelle China – deutlich intensiviert. »Kalte-Kriegs-Mentalität, Lagerkonfrontation und Mobbing«, so hat Chinas Präsident Xi Jinping auf dem am Montag zu Ende gegangenen Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) ihre Praktiken charakterisiert. Dass da einige wenige Staaten bestrebt seien, anderen »ihre Hausordnung« aufzunötigen, sei nicht akzeptabel, erklärte Xi. In einer Zeit, in der fast die ganze Welt unter heftigen Zöllen, politischen Repressalien, teils sogar Annexionsdrohungen der US-Regierung leidet, treffen derlei Äußerungen mehr denn je den Nerv einer großen Mehrheit aller Staaten.
Darin liegt die Chance nicht nur für China, sondern auch für andere Staaten, sich vielleicht nicht unbedingt den Diktaten der Trump-Administration offen zu widersetzen – wirklich leisten können sich das nur wenige –, aber doch nach Alternativen zu suchen, vielleicht gar nach einer alternativen Ordnung. »Die Gestaltung der Welt« sei »an einer Wegkreuzung angelangt«, fuhr Xi auf dem SOZ-Gipfel fort. Angesichts der aktuellen Turbulenzen müsse man sich um Kooperation und Entspannung bemühen, also um das, was die SOZ seit je zu praktizieren suche. Und: Es gelte die Schaffung einer neuen Ordnung anzustreben, einer Ordnung, in der die Gestaltung der Welt gerechter und ausgewogener geregelt sei. Die SOZ müsse dabei »eine größere Rolle« spielen als bisher und »die Stärke des globalen Südens« bündeln.
Ob das gelingt? Wer weiß. Der Kampf aber ist eröffnet, auch wenn er nur von wenigen, von China, Russland und Indien vor allem, offen geführt wird. Die Aggressionen der Trump-Administration lassen es auch vielen anderen ratsam erscheinen, auf Abstand zu den USA zu gehen. Die SOZ könnte sich in der Tat als – neben anderen – ein Kristallisationspunkt für sie erweisen.
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