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Aus: Ausgabe vom 01.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Cybercrime

Den eigenen Suizid gestreamt

Digitales Gewaltnetzwerk manipuliert und missbraucht Kinder und Jugendliche. Neben okkulten auch Neonazieinflüsse
Von Florian Osuch
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»Den Tod vergöttern« – nihilistische Botschaft in einem Manifest des Netzwerks »764« (Screenshot)

Während der vor kurzem in Köln ausgerichteten weltgrößten Messe für Videospiele »Gamescom« wurde über zunehmend rauhe Umgangsformen in Onlinespielen hingewiesen. Eine Befragung von 1.203 Spielern ergab, 38 Prozent würden beim Spielen »sehr oder eher häufig« beleidigt. Das meldete dpa unter Berufung auf eine Erhebung der Bertelsmann Stiftung. Neben Mobbing und Beleidigungen gibt es Anfeindungen, die bis zu Androhung körperlicher Gewalt und Vergewaltigung reichen. Betroffen sind davon häufig Spielerinnen. Vielfach geben sie sich bei Multiplayer-Games als Männer aus, um nicht diskriminiert zu werden.

Eine ganze andere Dimension ist das Phänomen, wenn junge Spielerinnen und Spieler ins Visier von digitalen Gewaltnetzwerken geraten. Über weltweit populäre und kommerziell äußerst erfolgreiche Plattformen wie »Roblox« oder »Minecraft« kontaktieren Täter gezielt Kinder und Jugendliche im Alter von etwa acht bis 17 Jahren, um deren Vertrauen zu erschleichen. Enge Bindung wird in emotionale Abhängigkeit gesteigert. Täter nutzen systematisch Manipulationstechniken mit dem Ziel, ihre Opfer gefügig zu machen und zu kontrollieren. Oftmals werden die Opfer dazu gebracht, Nacktfotos oder -videos zu versenden. Anschließend wird mit der Veröffentlichung oder Verbreitung dieses (kinder)pornographischen Materials gedroht und es entsteht ein gefährlicher Kreislauf aus Drohung und Erpressung. Die Täter sind oftmals selbst Jugendliche oder junge Erwachsene. Sie fordern immer weitere Entwürdigungen, bis zu Selbstverletzung und sogar Suizid. Oftmals werden diese Handlungen aufgezeichnet oder live im Internet gestreamt.

Gewaltnetzwerk »764«

Das wohl bekannteste Netzwerk nennt sich »764«. Benannt ist es nach der Postleitzahl ihres Gründers, eines 15jährigen aus Stephenville (Texas, USA). Unter dem Namen »Felix« soll er das Netzwerk im Jahr 2021 ins Leben gerufen haben. Auch er soll seine Opfer über die Spieleplattform Minecraft kontaktiert haben. Minecraft ist nach eigenen Angaben mit 300 Millionen verkauften Lizenzen das erfolgreichste Videospiel weltweit, noch vor Super Mario, Tetris oder Pokémon.

Schnell geriet »Felix« in den Fokus der Polizei, die ihn 2021 im Alter von 16 Jahren festnahm. Unter anderem wegen Besitz kinderpornographischen Materials wurde er zu 80 Jahren Haft verurteilt. Die Idee und die Techniken der Manipulation und des Missbrauchs hatten sich jedoch zügig im Internet verbreitet. Es kursieren Anleitungen und Handreichungen, wie potentielle Opfer ausgespäht und angesprochen werden sollten. Auf der ganzen Welt entstanden Ableger dieses diffusen Netzwerkes, das ohne zentralen Kern operiert. Die Mitglieder rühmen sich damit, andere zu demütigen, Kinder dazu zu bringen, ihre Haustiere zu töten oder sich selbst zu verletzten. Wer eigenes Material liefert, steigert seinen Ruhm.

Im Jahr 2024 hatten Der Spiegel, das rumänische Medium Recorder, die Washington Post und das englischsprachige Portal Wired international auf »764« aufmerksam gemacht. Sie hatten Einblick in 50 Chatgruppen. Dem größten Chat gehörten zeitweise mehr als 5.000 Mitglieder an. Insgesamt werteten die Journalisten einen Datensatz mit rund drei Millionen Nachrichten aus. Zentrale Plattform sei laut Spiegel das Portal Discord. Die Software nutzen laut eigenen Angaben weltweit über 250 Millionen Personen, zumeist Jugendliche und junge Erwachsene, oftmals in Verbindung mit Videospielen. In Deutschland wird die Zahl regelmäßiger Nutzer auf 3,5 Millionen geschätzt.

Mitte Juni wurde in Hamburg ein 20jähriger Mann festgenommen, der zwischen 2021 und 2023 als relevante Figur von »764« agiert haben soll. Unter dem Namen »White Tiger« soll er laut Spiegel zahlreiche Kinder virtuell sexuell missbraucht haben. Die Polizei beschuldigt ihn, mehr als 120 Straftaten begangen zu haben, »insbesondere gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung«, wie es in einer Erklärung heißt. Die Opfer waren acht Kinder und Jugendliche. »White Tiger« habe in sozialen Medien, darunter Instagram und Discord, gezielt vulnerable Geschädigte ausgespäht, kontaktiert und emotional von sich abhängig gemacht. Betroffene hätten für ihn pornographische Aufnahmen gefertigt. Die Opfer wurden derart manipuliert, dass sie sich in Livechats unter den Augen der Community massiv selbst verletzten, sexuelle Handlungen an sich ausübten oder mit Messern blutige Zeichen in den Körper ritzten. Aufnahmen solcher »Cutsigns« auf der Haut der Opfer gelten innerhalb der Gewaltszene als Trophäen. In einem Fall habe »White Tiger« einen erst 13jährigen Jungen aufgefordert, sich selbst zu erhängen. Seinen Suizid habe er dann live im Internet gestreamt. Der nun Festgenommene soll zur Tatzeit selbst erst zwischen 16 und 19 Jahren alt gewesen sein.

In den USA waren bereits im April zwei US-Amerikaner als mutmaßliche Schlüsselmitglieder einer »764«-Untergruppe festgenommen; ein 20jähriger in North Carolina sowie ein 21jähriger in Griechenland. Ermittlungen gibt es in allen Bundesstaaten der USA und international. Im Juli berichtete der NDR, hierzulande werde neben Hamburg in vier weiteren Bundesländern im Zusammenhang mit »764« ermittelt.

Ideologisches Mosaik

Was steckt hinter solchen Netzwerken? Einige der Täter konsumieren solche Gewaltvideos offenbar aus Voyeurismus und purem Sadismus. Ihnen fehlt jede Identifikation mit dem Opfer. Mitleid oder Einfühlungsvermögen sind ihnen fremd. Gegenseitig stacheln sich die Mitglieder solcher Gruppen über Chatnachrichten zu immer brutaleren Taten an. Sie vereint eine Weltanschauung, die menschlichem Leben keinen Wert beimisst. Gewalt und Folter als Selbstzweck, als unterhaltsamer Nervenkitzel, als realer Horrorfilm.

Es gibt jedoch auch Täter, deren Bezüge und Symboliken auf Satanismus, Okkultismus und Neonazismus deuten. Ein Teil des Netzwerkes orientiert sich ästhetisch am »Order of Nine Angles« (O9A), einem in den 1970er Jahren in Großbritannien gegründeten Orden. Er vereint Ideen von Satanismus, Nazismus und Rassismus. »O9A« praktiziert Aufnahmerituale, über die ihre Mitglieder zu »magischer Reife« kommen. Bei »764« wird etwas Ähnliches praktiziert: Wer im Ranking einer Gruppe aufsteigen möchte, muss eigenes Material liefern.

Parallel zur okkulten Esoterik durchziehen neonazistische Ideologien das Netzwerk. Eine Untergruppe nennt sich »No Lives Matter«. Ein Manifest trägt den Titel »Den Tod vergöttern«. Darin heißt es, man wolle »die gesamte Menschheit durch endlose Angriffe reinigen«. Die Vorstellung der Zerstörung liberaler Gesellschaften ist gerade in den USA oftmals verbunden mit der Vision eines weißen Ethnostaates. Einige Akteure von »764« verbinden ihren Sadismus mit der apokalyptischen Sehnsucht nach dem Untergang der bestehenden – als zu verweichlicht geltenden – liberalen Ordnung. Extreme Gewalttaten werden als Katalysator verstanden, um einen gesellschaftlichen Zusammenbruch zu beschleunigen.

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  • Leserbrief von Hans Meier (1. September 2025 um 10:43 Uhr)
    Schlimm, was der Autor hier beschreibt. Und dennoch frage ich mich: Was soll mir der »Schwerpunkt«-Artikel sagen? Welche Mehrwert hat er im Sinne einer marxistischen Zeitung? Was der Autor völlig unterschlägt, ist die gerade wieder aufflammende Diskussion zur De-Anonymisierung des Internets – natürlich nur zum Schutze der Kinder und Jugendlichen, wie dann immer kolportiert wird. Eindeutige Identifizierung mittels Ausweiskontrolle, um bestimmte Netzwerke zu nutzen oder überhaupt ins Internet zu kommen? Die Lösung für das vom Autor beschriebene Problem. Und das eigentliche Ziel autoritärer Staaten. Deutschland befindet sich kontinuierlich auf diesem Weg. Das wäre das eigentliche Thema gewesen.

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