Nur Industrieruinen bleiben
Von Jan Tillmanns
Nach monatelangem Nervenkrieg waren die Beschäftigten von Buderus Edelstahl in Wetzlar noch mit einem kleinen Funken Hoffnung zur Betriebsversammlung am Dienstag erschienen. Doch statt Hoffnung oder gar Aufbruchstimmung herrschten bald Verzweiflung, Ohnmacht, Trauer und Wut. Im Rahmen der Betriebsversammlung gaben die Verantwortlichen der Münchner Beteiligungsgesellschaft Mutares die Zerschlagung des Stahlwerks bekannt. Von den 1.130 Beschäftigten soll knapp die Hälfte gehen. »Wir hatten uns auf das Schlimmste eingestellt. Aber dass die Entwicklung so dramatisch sein wird, damit hat keiner von uns gerechnet«, betont IG-Metall-Betriebsratsmitglied Christoph Jung im Gespräch mit junge Welt.
Nach über 150 Jahren Stahlproduktion unter dem Namen Buderus sollen nach dem Willen der Eigentümer Ende Oktober dieses Jahres die Lichter ausgehen. Besonders hart trifft es die Stahlkocher des Betriebs. Diese hätten sich in den letzten Monaten aufgrund der prekären Lage des Betriebs mit Sonderschichten und dem Verzicht auf Zusatzleistungen »den Arsch aufgerissen«, so Jung. Als Dank wird der Bereich nun komplett stillgelegt werden.
Mit etwa 320 Beschäftigten soll die Gesenkschmiede zur Produktion von Maschinenteilen erhalten werden und beim Eigentümer Mutares verbleiben. Das Walzwerk sowie das Ausbildungswerk mit rund 350 Beschäftigten sollen an den niedersächsischen Stahlproduzenten Georgsmarienhütte verkauft werden. Im Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk zeigte sich der Beauftragte der IG Metall für Buderus in Wetzlar, Stephen Baier, nicht erfreut. Mit dem Verkauf eines Teils des Werks habe man immerhin ein Teilziel erreicht. Andernfalls hätten Baier zufolge sogar 800 Jobs gekürzt werden können.
Nach Aussagen der Unternehmensleitung von Mutares seien die hohen Energiekosten am Standort Wetzlar der Hauptgrund für die Schließung gewesen. Sie machten die Stahlproduktion in Mittelhessen im internationalen Vergleich kaum konkurrenzfähig. Man betrachte die »Restrukturierungsmaßnahmen« als »erfolgreich umgesetzt«, so ein Mutares-Vertreter gegenüber der Presse. Völlig anders bewertet das Jung vom Betriebsrat: Die Zerschlagung von Buderus Edelstahl sei für die gesamte Region eine Katastrophe. Dies beginne bei den Beschäftigten und deren Angehörigen, betreffe aber auch den Bäcker vor dem Werkstor, der jede Schicht mit seinen Brötchen versorgt habe.
Deutliche Kritik am Eigentümer übte auch die Wetzlarer SPD-Bundestagsabgeordnete Dagmar Schmidt gegenüber der ARD. Seit der Übernahme habe Mutares kein einziges seiner Versprechen eingelöst. Laut Schmidt seien alle Versuche der Politik, mit dem Eigentümer ins Gespräch zu kommen, ohne Ergebnis geblieben. Und das, obwohl jederzeit Unterstützung angeboten worden sei. »Wir haben hier eines der modernsten Stahlwerke Europas stehen. Mit unserem Werk können wir bereits jetzt zu hundert Prozent ›grünen Stahl‹ produzieren und einen wichtigen Beitrag zur Transformation leisten. Und das wird nun einfach plattgemacht«, so Jung. Nun gehe es für ihn und seine Kollegen im Betriebsrat in den nächsten Wochen darum, einen Sozialplan zu verhandeln, der für alle Beschäftigten und deren Familien eine reale Perspektive für die Zukunft schaffe.
Mit der Zerschlagung des Wetzlarer Stahlwerks werden das Unternehmen mit den meisten Beschäftigten im Lahn-Dill-Gebiet und deren lange und harte Arbeitskämpfe Geschichte sein. Bleiben werden weitere Industrieruinen, von denen die Region bereits genügend zu bieten hat.
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