Hôtel Bellevue
Von Marc Hieronimus
Der Name Hôtel Bellevue ist in Paris noch aussageschwächer als ohnehin. Es gibt dort mindestens fünf Hotels dieses Namens. Nach vorne raus ist die Aussicht trotz Berg- und Meeresmangels zwangsläufig »belle«, und selbst die Hinterhöfe sind weniger oder schöner trist als in vergleichbaren Städten, die es bekanntlich nicht gibt. Eins liegt im Marais, unweit eines langjährigen Charlie-Standorts. Der Frühstückssaal stammt wie das Gebäude selbst aus der Belle Époque. Die Stuckornamente sind so allgegenwärtig und stimmig, dass auch die mit hartnäckiger Dummheit und dummer Hartnäckigkeit ein- oder durchgeführten Neuerungen wie Elektrifizie-, dann Wifisierung, Saftspender, Industriedesignlampen, Pressspankommoden und dergleichen mehr ihn nicht komplett verschandeln können. Sicher, dass früher alles besser war, behauptet die Philosophie, seit es sie gibt, und bauliche Moden kommen und gehen. Bis in die 1970er Jahre hat man in Deutschland-West und -Ost unzählige Gebäude »entstuckt«, die heute sämtlich unter Denkmalschutz gestellt würden. Aber kann man sich vorstellen, dass Betrachter im Jahr 2150 vom Stil unserer Tage schwärmen werden wie wir vom damaligen? »Hach, diese strengen Büro- und Hotelbaufassaden von der Jahrtausendwende sind einfach bezaubernd. Und die Hosen mit den Löchern und dem vielen Plastik, sooo schick!« Wie wird der Stil, der keiner ist, wohl heißen? Vormerz? Letzter Vorkrieg?
Anemoia nennt man jetzt die Nostalgie nach einer Zeit, die man gar nicht erlebt hat. Ein neologistisches Kofferwort aus altgriechischem Material: »anemos« für »Wind« und »nous« für »Geist«. Der englische Wortschatz kennt seit dem 19. Jahrhundert das Substantiv »anemosis« für das Sichbeugen der Bäume im Wind. »Anemoia« ist ein Eintrag in John Koenigs »Dictionary of Obscure Sorrows« (New York u. a. 2021). Der von Koenig erfundene Begriff steht dort im wesentlichen für die Befindlichkeit beim Betrachten alter Fotografien. Jedoch: »The photo itself means very little, in the end. Maybe all we ever wanted was the frame« (Die Fotografie selbst spielt letztlich keine große Rolle. Möglicherweise war alles, was wir uns je ersehnt haben, der Rahmen).
Anemoia ist angeblich in der Gen Z besonders verbreitet, das sind die ab Ende der Neunziger geborenen Digital Natives. Es tritt aber auch bei Älteren auf. Man übersieht bei der Sehnsucht nach früher gern den Alltag: Die Belle Époque, bei uns die Kaiserzeit, bedeutete für die meisten Menschen nicht literarische Salons, Glücksspiel, Galanterie und gepflegten Drogengebrauch, sondern 70 bis 80 Stunden Arbeit die Woche, eine Lebenserwartung unter vierzig Jahren, Krankheit und Elend. Aber bauen konnten sie damals.
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