Misstrauen ist erste Leserpflicht
Von André Dahlmeyer
Kriminalromane sind keine Hippie-Elegien. Wenn sie sich verkaufen sollen, und das sollen sie ja, wird gekotzt, gesoffen und ein bisschen rumgemordet, möglichst synchron, damit man nicht zu sehr durcheinanderkommt. In deutschen Spießerkrimis geht es gerne um Ehebruch als das Maß aller Dinge oder um Wirtschaftskriminalität (damit kennt man sich wenigstens aus). Ansonsten um Robben, Johanniskraut und Kuhscheiße. Der mir bis dato nicht bekannte afroamerikanische Autor Jake Lamar, der seit 1993 in Paris lebt, trägt hingegen dick auf. Er jongliert mit Verschwörungstheorien respektive Verschwörungspraktikern. Löblich ist das, wenn es einen Nutzen hat. Sein Kriminalroman »Das schwarze Chamäleon« ist bereits 2001 in den USA publiziert worden, noch vor »9/11«, und nun erstmalig auf deutsch. Nautilus hat einfach dieses Händchen, auch wenn mir das Nachwort des Übersetzers Robert Brack, selbst ein spektakulärer Krimiautor, in dem er beschreibt, wie er Lamar gesucht und gefunden hat, etwas, pardon, marketingmäßig vorkommt.
Der in der Bronx aufgewachsene Harvard-Absolvent Lamar, geboren 1961, hat vor allem auch einen politischen Bildungsroman geschrieben. Nein, stimmt auch nicht. Es geht um Fanatismus. Der hat keine Hautfarbe. Die Handlung umfasst einige Tage im Februar 1992. Um diese Zeit war der schwarze Richter Clarence Thomas trotz sexueller Übergriffe in den Supreme Court der Vereinigten Staaten berufen, der Afroamerikaner Rodney King vor laufenden Kameras von Polizisten gefoltert worden; als diese Staatsdiener Monate später freigesprochen wurden (hatte King nicht um die Misshandlungen gebeten?), stand bei den Riots halb Los Angeles in Flammen.
Lamar spannt einen Bogen von den 60er bis zu den 90er Jahren. Von den Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung hin zu einer Ära des Konformismus, in der alles auf dem Kopf zu stehen scheint. Dasselbe erleben wir gerade weltweit mit dem Erstarken der Rechten, deren Wähler herkömmliche Politik in Gänze abzulehnen scheinen. Alle denken nur daran, sich die eigenen Taschen vollzumachen. Links zu wählen ist keine Alternative. Links zu handeln schon.
Der heimliche Hauptprotagonist dieses Politkrimis, Reginald T. Brogus, geistert durch das Buch wie eine Metapher. Er taucht nur am Anfang und am Ende auf. Bisweilen wirkt er, als wäre er nach dem Black-Power-Aktivisten und Schriftsteller Eldridge Cleaver modelliert. Brogus, früher Black Panther, hat sich längst ins Gegenteil gehäutet. An solche Karrieren glaube ich nicht, weshalb ich auch Lamars gestreuter Fährte nicht traute. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie Linke sich in Rechtsextremisten verwandeln. Bei Lamar sind die Unterstützer und Fans von Brogus ganz sicher schon immer so stramm rechts gewesen wie der Professor, der zum Superstar unter einem Teil der vermeintlich linken Schwarzen aufstieg, weil er in einem Pamphlet zu seriellen Vergewaltigungen an weißen Frauen aufrief und zu Massenexekutionen weißer Männer.
Mittlerweile darf er am »Afrikamerikainstitut« einer Universität lehren. Eines Tages liegt eine nackte weiße tote Frau in seinem Büro. Er bittet seinen Kollegen Clay Robinette um Hilfe. Robinette ist auch der Ich-Erzähler des Romans. Ein ehemaliger Journalist, rausgeflogen wegen frei erfundener Interviews, nun Dozent für »Creative Non-Fiction«.
So jemandem soll man als Leser trauen? (Natürlich nicht: Misstrauen ist des Lesers erste Bürgerpflicht!) Als Mensch wie als Erzähler unzuverlässig, lügt Robinette in einem fort. Rasch wird klar, dass ihm selbst das nicht klar ist. Lebenslüge. Er wählt die Demokraten und ist schön brav, wie Gott es ihm gepriesen hat. Brogus lullt ihn mit wirren Versen und Dokumenten über den Mord an Martin Luther King ein. Mit dem könnte man ja vielleicht ein jenseitiges Interview führen? Die später ermittelnde Polizistin hat eine These: Krimis könnten viel interessanter sein, wenn sie aus der Perspektive der Kriminellen erzählt würden. Das weiß man aber schon länger, und jemandem wie Robinette ist es ohnehin schon immer klar gewesen.
Treffend beschreibt Lamar das Lavieren zwischen neoliberalen Diversity-Ansätzen und naiven identitätspolitischen Jubelorgien in den Fehden auf dem Unicampus, die Eitelkeiten und Konkurrenzkämpfe der Dozenten sowie die P.-C.-Debatten (heute gelegentlich »Wokeness« genannt) der Studierenden. Dem Roman wurde übrigens aus dem Stand der Deutsche Krimipreis 2024 verliehen. Verbrecherischerweise undotiert.
Jake Lamar: Das schwarze Chamäleon, Kriminalroman. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Robert Brack, Edition Nautilus, Hamburg 2024, 328 Seiten, 22 Euro
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