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Aus: Ausgabe vom 23.08.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Schräge Vögel, heftiges Bechern

Die Kunst der Verfremdung: Elmar Imanovs zweiter Spielfilm »Der Kuss des Grashüpfers«
Von Ronald Kohl
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Ein Blick in die »ausgeweitete Realität«

Bernhard (Lenn Kudrjawizki) ist kein normales Kind. Er wird bald 50 und schafft es nicht, sich von seinem 80 Jahre alten Vater (Michael Hanemann) abzunabeln. Die große Preisfrage lautet allerdings: Was käme danach? Womöglich die totale Leere? – Nicht unbedingt. Denn es ist nicht gesagt, dass Bernhard dann verloren wäre, obwohl es in seiner Welt an allem mangelt, das zu einem erfüllten Leben dazugehört: Er hat keine eigene Familie, also weder Frau noch Kinder, nur eine Freundin, der es sadistische Freude bereitet, sich über seine Ziellosigkeit aufzuregen.

Und was Bernhards »beruflichen« Alltag betrifft, scheint auch der eher zweifelhafter Natur zu sein. Regelmäßig bastelt er vor dem Fenster seiner geräumigen Dachgeschosswohnung sitzend an einer seltsamen Apparatur. Er schraubt und lötet mit Ausdauer und Konzentration, doch scheinbar ergebnislos.

Obwohl Bernhard also im Grunde nur dem Herrn die Zeit stiehlt, sorgt eine Sache beständig für Sinn, Wärme und Geborgenheit in seinem Leben: sein Haustier, ein gewöhnliches Schaf, das auf den Namen Fiete hört und mit ihm in einem Bett schläft.

Tiere verkörpern in »Der Kuss des Grashüpfers« die »ausgeweitete Realität«, so nennt es Produzentin Eva Blondiau. Natur begegnet uns im Film hingegen nur in Fernsehbeiträgen, die meist zufällig irgendwo im Hintergrund laufen. Immer wieder werden Phänomene gezeigt, für die die aktuelle Forschung noch keine Erklärungen bereithält. Diese rätselhaften Erscheinungen, zum Beispiel ein massenhaftes Dohlensterben, lassen es relativ unspektakulär erscheinen, wenn im Verlauf der Handlung ein mannshoher Grashüpfer eine Cocktailbar besucht. Bernhard, der zunehmend heftig am Bechern ist, rempelt das Insekt versehentlich an und entschuldigt sich sogleich.

Sein Nichtstun wird überraschenderweise durch zwei Ereignisse unterbrochen. Er bekommt von einem Verleger den Auftrag, einen Essay über die Angst vor Schmerz und Trauer zu verfassen. Während dieser Zeit wird sein Vater bei einem nächtlichen Überfall niedergeschlagen. Bei der anschließenden medizinischen Untersuchung stellen die Ärzte in seinem Kopf einen gefährlichen Tumor fest. Eine Operation könnte Erfolg haben – oder auch tödlich enden.

Regisseur Elmar Imanov hätte den Film ganz bestimmt nicht so gedreht, wenn nicht vor Jahren sein eigener Vater an Lungenkrebs verstorben wäre. Er bezeichnet die Szene, in der es zum Kuss zwischen Bernhard und dem Grashüpfer kommt, als den Moment, in dem Bernhard sich dafür entscheidet, den Vater nicht mehr zu einer Behandlung zu drängen.

Dieser Kuss findet in den Morgenstunden in einem Club statt. Die Technobeats hämmern, und das Publikum trägt durchweg schräge Kostüme. Es hätte also genauso gut passieren können, dass Bernhard mit einem behelmten Motorradpolizisten knutscht (wäre nur nicht so gut für den Titel gewesen).

Das Reizvolle und auch Gekonnte des Films besteht darin, realistische Dinge fremdartig erscheinen zu lassen und absurde wiederum realistisch.

Die einprägsamste und zugleich witzigste Szene ist für mich der Besuch Bernhards beim Jobcenter. Er geht dorthin, um seinen Vater, der keinen Bock mehr auf das Amt hat, abzumelden. Drei Mausklicks und die Sache ist erledigt. Dann beugt sich der Sachbearbeiter vor und fragt: »Und sagen Sie, wie sieht das denn aus? Hat er jetzt eigentlich endlich einen Job gefunden?«

Als der Sachbearbeiter von der schweren Krankheit der nunmehrigen Karteileiche erfährt, möchte er, dass der Sohn seinem Vater die allerbesten Wünsche für »diese schwere Zeit« übermittelt. Bernhard lehnt das ab. »Schreiben Sie ihm doch einfach einen Brief, wie immer.«

Während Bernhard hier nur schlagfertig auftritt, erleben wir ihn in anderen Situationen oft unerschütterlich selbstbewusst, beinahe überheblich, genau wie Karlsson vom Dach in Astrid Lindgrens Romanen. Dazu passt auch der Vorname des Vaters: Carlos. Und es gibt besagtes Bastelobjekt, das sich als Flugapparat entpuppt. Ganz schön abgehoben.

»Der Kuss des Grashüpfers«, Regie: Elmar Imanov, BRD/Luxembourg/Italien 2025, 128 Min., bereits angelaufen

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