Nüchtern im nationalen Delirium

Zwei Welten stehen jetzt schroff einander gegenüber – die Welt der Besitzenden und die Welt der Nichtbesitzenden, die Welt des Kapitals und die Welt der Arbeit, die Welt der Unterdrücker und die Welt der Unterdrückten, die Welt der Bourgeoisie und die Welt des Sozialismus – zwei Welten mit entgegengesetzten Zielen, Bestrebungen, Anschauungen und mit verschiedener Sprache, zwei Welten, die nicht nebeneinander bestehen können, von denen die eine der andern Platz machen muss.
Im letzten Krieg (Deutsch-Französischer Krieg 1870/1871, jW) zeichneten sich beim Schein der Brandkugeln und der auflodernden Städte und Dörfer die Umrisse der beiden Welten, auch dem blödsichtigsten Auge erkennbar, scharf voneinander ab: hier, die Vertreter der alten Welt, Hass und Verachtung predigend gegen das Nachbarvolk, den Menschenmord im großen als des Menschen höchstes Ziel hinstellend, mit allen Mitteln die Leidenschaften aufstachelnd, das Denken erstickend und auf dem Altar eines engherzigen fanatischen Patriotismus die Humanität opfernd – dort, abseiten stehend, die Vertreter der neuen Welt; ruhig neben dem wildtobenden Strom; nüchtern inmitten der Orgien des nationalen Deliriums; unerschüttert durch Vorwürfe, Anklagen, Verfolgung; stolz den Gegnern die Stirn bietend und ihnen zurufend: »Was Ihr zu den vornehmsten Pflichten stempelt, erscheint uns unsittlich; was Ihr als die erhabensten Güter preist, widerstreitet den Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit. Der Mensch, welcher jenseits unserer Grenzpfähle wohnt, ist ein Mensch so gut wie wir; die Völker sind Brüder und sollen einander lieben, statt sich gegenseitig zu erwürgen. Mord bleibt Mord, auch wenn der Mörder und der Ermordete verschiedene Sprachen sprechen und bunte Röcke tragen statt einfarbiger; der Mord aber ist ein Verbrechen, und das Verbrechen hört nicht auf, Verbrechen zu sein, wenn es in riesigem Maßstab ausgeübt wird. Der Erfolg verwandelt Unrecht nicht in Recht. Was Ihr Ruhm nennt, ist uns das Gegenteil des Ruhmes, was Ihr Ehre nennt, das Gegenteil der Ehre; die Triumphe, mit denen Ihr prahlt, sind uns nur Triumphe der Barbarei; der Krieg, und wäre er der glorreichste, ist eine Sünde wider den heiligen Geist der Menschheit – ein Unglück für den Sieger wie für den Besiegten. Das Wort ›Vaterland‹, das Ihr im Munde führt, hat keinen Zauber für uns; Vaterland in Eurem Sinne ist uns ein überwundener Standpunkt, ein reaktionärer, kulturfeindlicher Begriff; die Menschheit lässt sich nicht in nationale Grenzen einsperren; unsere Heimat ist die Welt: ubi bene ibi patria – wo es uns wohl geht, das heißt, wo wir Menschen sein können, da ist unser Vaterland; Euer Vaterland ist für uns nur eine Stätte des Elends, ein Gefängnis, ein Jagdgrund, auf dem wir das gehetzte Wild sind und mancher von uns nicht einmal einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann. Ihr nennt uns, scheltend, ›vaterlandslos‹, und Ihr selbst habt uns vaterlandslos gemacht! (…) Eure Triumphe beschleunigen nur Euern Sturz. In dem Glockengeläute zur Feier Eurer Siege hören wir schon das Grabgeläute Eurer Herrlichkeit.« (…)
Blicken wir hin auf Frankreich, das große politische und soziale Versuchsfeld, wo sich jüngst die furchtbar großartige Tragödie der Kommune abspielte. Das sozialistische Proletariat, das durch die brandenden Wogen der Ereignisse in Paris auf den Gipfel der politischen Gewalt erhoben worden war, es erlag nach heroischem Riesenkampf den vereinigten Anstrengungen der preußischen und der französischen Armee; vierzigtausend Arbeiter wurden im Kampf und nach dem Kampf niedergemetzelt, ebenso viele wurden gefangen, um in ungesunden Kerkern, in mephitischen Schiffsräumen, in den giftigen Sümpfen von Cayenne der »trockenen Guillotine« zum Opfer zu fallen. Welcher Jubel unter den Vertretern der alten Welt! Die soziale Frage war aus der Welt geschafft, der Sozialismus in der Person von achtzigtausend Sozialisten getötet oder dem Tod geweiht!
Der Sozialismus getötet? Die Herren haben ein kurzes Gedächtnis. Dreiundzwanzig Jahre vor dieser Katastrophe war Paris der Schauplatz einer ähnlichen Tragödie, nicht minder großartig, wenn auch nicht von ebenso großen Dimensionen. (…) Mit »Blut und Eisen« ist die sozialistische Bewegung nicht aus der Welt zu schaffen. Im Juni 1848 ist es umsonst versucht worden; und nicht besseren Erfolg hat die Pariser Bluthochzeit vom Mai 1871 gehabt. Wie die Juni-Insurrektion in der Kommune ihre Auferstehung feierte, so wird auch die Kommune einst ihre Auferstehung feiern; und die Ausbrüche werden sich mit wachsender Macht wiederholen, bis die alte Welt ihre Hilfsmittel erschöpft hat und in Trümmer sinkt – es sei denn, dass ein friedlicher Ausweg gefunden werde.
Wilhelm Liebknecht: Zu Trutz und Schutz. Festrede, gehalten zum Stiftungsfest des Crimmitschauer Volksvereins am 22. Oktober 1871. Hier zitiert nach: Wilhelm Liebknecht: Kleine politische Schriften. Reclam-Verlag, Leipzig 1976
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (9. August 2025 um 10:37 Uhr)Welch eine Klarheit im Denken in einer Situation, die der unseren heute außerordentlich stark ähnelt: Damals sollte das Volk sturmreif für den Krieg geschossen werden, heute faselt man von Kriegstüchtigkeit als dem erhabensten Ziel Deutschlands. Euer Krieg ist nicht unser Krieg, uns wollt ihr lediglich schlachten in euren Schlachten für euren Profit. Den Profit nennt ihr das Vaterland und für den sollen wir sterben. Wir denken nicht daran, euer Schlachtvieh zu werden – welch klare Botschaft in der Rede von Wilhelm Liebknecht. Man könnte und sollte sie an jedem Tag öffentlich wiederholen, damit sich das deutsche Volk nicht auch im 21. Jahrhundert wieder in ein tödliches Stahlgewitter treiben lässt.
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