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Aus: Ausgabe vom 09.08.2025, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Zweiter Weltkrieg

Tage des nuklearen Massenmordes

Vor 80 Jahren warfen die USA Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Teil 2 und Schluss
Von Rudolf Stumberger
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Komplette Zerstörung: Auch in Nagasaki starben durch den Atombombenabwurf unmittelbar Zehntausende Menschen

Es ist Mittwoch, der 9. August 1945, als vormittags um 11.01 Uhr eine Boeing B-29 »Superfortress« der US-amerikanischen Luftwaffe die Bombe in 8.800 Metern Höhe ausklinkt. Während das Flugzeug mit seiner 13köpfigen Besatzung abdreht, explodiert Sekunden später die zweite Atombombe der Geschichte, die als Massenvernichtungswaffe eingesetzt wurde. Die Detonation ereignet sich in rund 500 Metern Höhe über der japanischen Stadt Nagasaki im Westen der Hauptinsel Kyushu. Ursprünglich hätte die Bombe die Stadt Kokura im Norden der Insel treffen sollen, doch wegen der schlechten Sichtverhältnisse nahm das Flugzeug Kurs auf das Ausweichziel. Die Atombombe tötet durch ihre Druckwelle und die Hitzestrahlung sofort an die 40.000 bis 50.000 Menschen: Kinder und Greise, Männer und Frauen, Soldaten und Verletzte in den Krankenhäusern. Im Laufe der Jahre erhöht sich die Zahl der Opfer durch die Wirkung der radioaktiven Strahlung, die zum Beispiel Leukämie erzeugt.

Heute ist Nagasaki eine lebendige Stadt mit rund 430.000 Einwohnern im Nordwesten von Kyushu. Quer hindurch rattert eine Trambahn in bunter Bemalung, eine Fahrt kostet 120 Yen, etwa einen Euro. Mit diesem Billet erreicht man auch die Station Oura Tenshuda-shita, und von hier aus sind es vier Minuten Fußweg, bis man zur Oura-Kathedrale gelangt. Sie ist Japans älteste Kirche, aus Holz und im gotischen Stil gehalten – Nagasaki war neben seiner Bedeutung als Handelsstadt mit westlichen Kaufleuten ein Zentrum des japanischen Christentums. 1895 begann man hier mit dem Bau der Kathedrale von Urakami. Das Vorhaben dauerte 30 Jahre, und dann galt die Kirche als der größte Bau im romanischen Stil in Asien. Heute präsentiert sich die 1959 wiederaufgebaute Kirche im Rot ihrer Backsteine, während die Kinder aus dem Gemeindekindergarten unter der Anleitung einer Ordensschwester den Kirchhof säubern. Als die Atombombe über der Stadt explodierte, machte sie keinen Unterschied zwischen Alter, Geschlecht, Ethnie oder Religion, unter den Toten waren 8.000 Christen.

Auch die Urakami-Kirche wurde zerstört. Heute sind neben dem neuen Bau noch die Reste des alten nördlichen Kirchturms im Boden zu sehen, so wie sie seinerzeit herabstürzten. Überreste der Kirche finden sich auch im Atombombenmuseum von Nagasaki. In einem Raum ist eines ihrer zerstörten Portale aufgebaut, ein Foto zeigt die Kirchenruine einsam inmitten verwüsteter Landschaft. Zu sehen ist dort auch ein Rosenkranz aus Glas, zerschmolzen unter der ungeheuren Glut der Bombe. Man kann sich fragen, warum die US-Regierung den Befehl gab, drei Tage nach Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima eine zweite Stadt mit dieser furchtbaren Waffe zu zerstören. Um einer Antwort auf diese Frage näherzukommen, muss man einen Stellungswechsel vornehmen: in den Nordwesten der USA.

Dort fließt der Columbia River, ein großer Fluss mit mächtigen Stauwehren wie dem Bonneville-Damm zur Stromgewinnung. Sie wurden im Zuge des New Deal in den 1930er Jahren errichtet, sind staatlich, und die Stromkosten sind auch heute noch relativ gering. Der Columbia River fließt durch die US-Bundesstaaten Washington und Oregon. 50 Kilometer vor der Grenze zu Oregon geht es an seinen Ufern um eine völlig andere Art von Energie: Hier in Hanford steht der Atomreaktor, in dem das Plutonium für die Atombombe hergestellt wurde, die am 9. August 1945 auf Nagasaki fiel (die erste Bombe auf Hiroshima war eine Uranbombe). Und neben diesem »Reaktor B« stehen weitere Reaktoren, in denen bis 1987 Plutonium für die US-amerikanischen Atomwaffen produziert wurde. Heute findet auf dem riesigen Gelände am Ufer des Columbia River die größte Umweltentgiftungsaktion der Welt statt.

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Gefährliche Ingenieursleistung: Kontrollkonsole des Plutoniumreaktors in Hanford

Wir sind etwa 20 Leute, die am frühen Morgen in den Bus steigen, um von der Kleinstadt Richland in das circa 40 Kilometer entfernte Hanford zu fahren. Organisiert ist die Tour durch das US-amerikanische Energieministerium, die Plätze sind begrenzt, und man muss sich online anmelden. Für Ausländer ist nur der Reaktor B zugänglich. Hanford ist ein 1.500 Quadratkilometer großes Wüsten- und Steppengelände im Südosten des US-Bundesstaates Washington, oben im Norden, an der Grenze zu Kanada. Ab 1947 wurde hier im Zuge des Kalten Krieges die Plutoniumproduktion in großem Stil aufgenommen und der hochgiftige Stoff in insgesamt neun Reaktoren produziert. Die Reaktoren befinden sich alle in der sogenannten Area 100 und wurden wegen des Kühlwasserbedarfes direkt an das Ufer des Columbia River gebaut. 1959 begann der Bau am letzten Reaktor, »Reaktor N«, der bis 1987 in Betrieb war; die älteren Reaktoren waren vorher nach und nach abgeschaltet worden.

Unser Bus hat mittlerweile eine Sperre passiert, und wir fahren hinein in die »Area 100«. Die Gegend ist menschenleer, nur der Wind streift über das Gestrüpp am Boden. Das »Manhattan Project«, also das Atomwaffenprogramm der USA im Zweiten Weltkrieg, unterlag der strengsten Geheimhaltung, und so wurden auch die beiden auf dem Gelände liegenden Ortschaften White Bluffs und Hanford evakuiert. Kurz bevor der Bau der Anlagen begann, mussten im Frühjahr 1943 die Bewohner innerhalb von 30 Tagen gegen eine kleine Entschädigung Häuser und Farmen verlassen.

Ins Herz des Reaktors

Die Straße zieht sich schnurgerade durch die Steppe, bis irgendwann am Horizont ein großes, umzäuntes Gebäude auftaucht: der Reaktor B. Ein Tor wird geöffnet, und wir fahren auf das Betriebsgelände, linker Hand rosten zwei mächtige Diesellokomotiven auf den Gleisen vor sich hin. Die Tour führt durch ein paar Gänge und dann direkt in das Herz der Anlage: den Reaktorraum, in dem die Brennelemente in den Reaktor eingeführt wurden. Ein hoher Raum aus Beton, durch Neonlicht erhellt, in einer Ecke hängt die US-amerikanische Flagge. Der Reaktorraum besteht aus einem elf Meter breiten und elf Meter hohen Graphitblock mit einer Tiefe von 8,5 Metern. In diesem Block befinden sich 2.004 horizontale Prozessschächte oder Röhren mit einem Durchmesser von circa vier Zentimetern. In diese Röhren wurde in Aluminiumzylindern das Uran geschoben und während der Atomreaktion mit Wasser umspült, um die Hitze abzuleiten. Dazu wurden jede Minute 300.000 Liter Wasser aus dem Columbia River entnommen. Mit neun horizontalen Kontrollstäben aus Bor konnte die atomare Reaktion gesteuert werden. 29 Sicherheitsstäbe konnten von der Decke aus in den Graphitblock gesenkt werden, um den Reaktor schnell abschalten zu können. Dieser innere Reaktor war von einem 25 Zentimeter dicken gusseisernen Hitzeschild umgeben, der wiederum von einer 1,27 Meter dicken Schicht aus Stahl und Holz ummantelt war. Sie schützte die Arbeiter vor der radioaktiven Strahlung. Schließlich wurde der Reaktor noch von einem 2,5 Zentimeter dicken Stahlmantel umgeben, um das Eindringen von Gasen zu verhindern. Im September 1944 erfolgte hier die erste atomare Kettenreaktion.

Was heute verblüfft, ist der damalige Stand der Technik, mit dem dieser Atomreaktor innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft wurde. Mechanische Relais, Röhren und elektrische Steckverbindungen im Kontrollraum stehen für die Standards der 1940er Jahre. Der Bau selbst war ein Unternehmen der Superlative: Nachdem 1943 die letzten Siedler das Gelände verlassen hatten, wurde landesweit eine Bauarmee von 50.000 Arbeitern angeheuert. Diese wussten zwar, dass sie an einem kriegswichtigen Unternehmen arbeiteten, hatten aber keine Ahnung vom wirklichen Zweck der geplanten Anlage. 40.000 der Männer wurden in Baracken einquartiert, der Rest in Wohnwagen. Die Verpflegung war eine logistische Herausforderung: Jeden Tag wurden 2.500 Kilo Würstchen für das Frühstück gebraten, 100 Kilo Butter verarbeitet und 15 Tonnen Kartoffeln geschält, jede Woche wurden 130.000 Kilo Fleisch zubereitet. Die Arbeiter verpafften pro Tag 16.000 Päckchen Zigaretten und tranken 55.000 Liter Bier in der Woche. Monatlich gingen 2.000 Schlüssel für die Barackenunterkünfte verloren. In nur elf Monaten wurde unter der Führung des Physikers Enrico Fermi von der Universität Chicago der Reaktor B hochgezogen. Aus Sicherheitsgründen fungierte der gebürtige Italiener, der 1938 in die USA eingewandert war, in Hanford unter dem Namen Mr. Farmer und wurde stets von Leibwächtern begleitet. Der Reaktor B war bis Februar 1968 in Betrieb.

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Warum kam nach der Zerstörung Hiroshimas auch noch »Fat Man« zum Einsatz? Die Gründe für die Atombombenabwürfe werden bis heute diskutiert

Aus den Augen, aus dem Sinn

Rund 20 Jahre später wurde deutlich, was für ökologische Kosten die Plutoniumproduktion in Hanford verursacht hatte. Jahrzehntelang war die Anlage aus Geheimhaltungsgründen für zivile Kontrollen nicht zugänglich. Jahrzehntelang wurde mit dem hochradioaktiven Abfall umgegangen wie mit Hausmüll: Man verbuddelte ihn in der Erde, kippte ihn in Abwässergräben, ließ ihn in das Grundwasser einsickern und pumpte ihn in Tümpel und Sümpfe. Als am 1. Mai 1987 Hanford für Kontrollen durch Staats- und Bundesbehörden geöffnet wurde, kam ein gigantischer Umweltskandal ans Tageslicht. In der Umgebung von Hanford wurden dreiäugige Fische gefangen, hieß es, Kälber wurden mit Missbildungen geboren, Menschen starben an Krebs, radioaktive Wolken aus den Kaminen wurden nach Oregon, Montana und Kanada geweht. Die offiziellen Stellen wiegelten stets ab. Mit dem Plutonium aus Hanford werde schließlich die westliche Freiheit verteidigt, hieß es in Zeiten des Kalten Krieges. Heute arbeiten in dem Gebiet 11.000 Arbeiter mit Schutzkleidung und Atemmasken an dem größten Entkontaminierungsprojekt der Welt.

Hanford war wie der Reaktor in Oak Ridge in Tennessee und das Testgelände Los Alamos in New Mexico Teil des geheimen »Manhattan Projects« zur Entwicklung der Atombombe durch die USA. Eine gigantische Unternehmung, an der 130.000 Menschen beteiligt waren und die die gigantische Summe von mehr als zwei Milliarden US-Dollar verschlang. Das Atomprogramm der USA lief zweigleisig: In Oak Ridge wurde die Atombombe »Little Boy« durch Urananreicherung gewonnen. Sie hatte eine Sprengkraft von 15 Kilotonnen TNT. In Hanford wurde in den Reaktoren Plutonium erbrütet, die Bombe »Fat Man« entwickelte eine Sprengkraft von 21 Kilotonnen TNT.

Während die Uranbombe über Hiroshima abgeworfen wurde, ohne sie vorher zu testen, explodierte am 16. Juli 1945 in Los Alamos die erste Plutoniumbombe, der »Trinity«-Test. Um so fragwürdiger bleibt, warum die zweite Plutoniumbombe über Nagasaki abgeworfen wurde. Eine mögliche Antwort gibt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Brien Hallett, der den Atomwissenschaftler Robert Oppenheimer zitiert, wonach die Entscheidung für die Anwendung der Bombe im »Manhattan Project« selbst angelegt war. Mit ihm wurde eine militärisch-technische Entwicklung angeschoben, die durch die milliardenschwere Finanzierung und absolute Geheimhaltung eine derartige Schwungkraft entwickelte und nicht zu stoppen war. Die bürokratische Arbeitsteilung des riesigen Projekts fungierte als jene Kluft, in der alle persönliche Verantwortung verschwand. Letztlich gingen alle Beteiligten davon aus, dass die Bomben gebaut wurden, um sie zu nutzen.

Hätte Japan bereits kapituliert, wäre ein Test der beiden Bomben unter »realen Bedingungen«, also abgeworfen auf eine Großstadt, nicht mehr möglich gewesen. Die Verantwortlichen hätten sich vor der Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten rechtfertigen müssen, warum sie etliche Milliarden US-Dollar in ein Projekt investierten, das den Krieg nicht beeinflusst hatte. Und die Signale an die Sowjetunion, was die technische Überlegenheit der USA in Sachen Atomwaffen anbelangte, wären nicht so dramatisch gewesen.

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