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Aus: Ausgabe vom 05.08.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrien

Minderheiten im Brennpunkt

Syrien: Israel weitet Besetzung aus. Kaum Aussicht auf unabhängige Untersuchung von Massakern an Drusen und Alawiten
Von Wiebke Diehl
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Auf beiden Seiten der Grenze leben Drusen. Das will sich die israelische Armee zunutze machen (Golan, 16.7.2025)

Unser Ziel: Damaskus« – so waren vergangene Woche im Internet kursierende Bilder von israelischen Truppen in der Nähe der Stadt Katana im Süden Syriens untertitelt. Nach Angaben der libanesischen Zeitung Al-Akhbar hatte das israelische Militär Ras Al-Nabaa, eine Stadt westlich des nur 20 Kilometer von Damaskus entfernten Katana, erreicht. Die Einheit, zu der auch hochrangige israelische Offiziere wie der Armeesprecher Avichai Adraee gehörten, rückte vom Berg Hermon aus vor und drang schließlich ins Hauptquartier der aufgelösten 78. Brigade der syrischen Armee ein. In Katana waren früher mehrere syrische Armeeverbände sowie Eliteeinheiten der Republikanischen Garde und die Palästinensische Befreiungsarmee, der militärische Flügel der PLO, stationiert. Das Gebiet ist von strategischer Bedeutung und könnte Israel für weitere Besetzungen syrischen Landes dienen.

Die israelische Armee richtete zudem mindestens drei neue Außenposten in der Nähe der mehrheitlich drusischen Stadt Hadar ein. Im zwischen Deraa und Kuneitra gelegenen Tal Al-Faras wurden neue Luftverteidigungs- und elektronische Kampfführungssysteme installiert. Für eine Ausweitung der israelischen Kontrolle und Besatzung spricht auch, dass israelische Hubschrauber das ehemalige Hauptquartier der 15. Division der syrischen Armee in Suweida ansteuern und dort Waffen und medizinische Güter abladen. Israel hat nach dem Sturz der syrischen Regierung im Dezember die im Waffenstillstandsabkommen nach dem Oktoberkrieg im Jahr 1974 vereinbarte 235 Quadratkilometer große entmilitarisierte Pufferzone besetzt und dehnt seither seine Besatzung in Syrien stetig aus. 30 Prozent der syrischen Wasserversorgung befinden sich unter israelischer Kontrolle, immer neue Militärstützpunkte werden errichtet. Mitte Dezember verabschiedete Israel einen Plan, die schätzungsweise 20.000 Menschen zählende Siedlerbevölkerung auf dem völkerrechtswidrig annektierten Teil der Golanhöhen zu verdoppeln. Extremistische Siedlergruppen begannen umgehend, Pläne zur Besiedlung großer Teile Syriens wie auch des Libanon zu entwickeln.

Israel behauptet, die Drusen schützen zu wollen, und hat unter diesem Deckmantel bereits mehrfach in Syrien militärisch interveniert, zuletzt Mitte Juli in Suweida. Seit ihrer Machtübernahme überlassen die syrischen »Sicherheitskräfte« der israelischen Armee regelmäßig kampflos das Feld. Israel hat seit spätestens 2013 in Syrien islamistische Gruppen finanziell, operativ und mit medizinischer Versorgung unterstützt – darunter auch die Nusra-Front, die Vorgängerorganisation der heute herrschenden Haiat Tahrir Al-Scham (HTS). Tatsächlich geht es Tel Aviv um die Ausweitung der eigenen Kontrolle und die Besetzung weiterer Gebiete, nicht um den Schutz von Minderheiten. Als der sogenannte Islamische Staat 2017 in Suweida einfiel und Massaker an Drusen beging, machten weder Israel noch andere internationale Mächte Anstalten, den Drusen zur Seite zu springen oder deren Schutz auch nur einzufordern.

Bereits im Dezember, kurz nach dem Sturz Präsident Baschar Al-Assads, ist ein schon vor dem islamistischen Putsch entwickelter israelischer Plan, Syrien in drei Blöcke zu zerteilen und so dessen Beziehungen zum Iran und der Hisbollah zu kappen, aufgedeckt worden. Teil des Plans war der Aufbau militärischer und strategischer Beziehungen zu den Kurden im Nordosten und den Drusen im Süden. Am 9. Dezember, einen Tag nach dem Sturz Assads, wandte sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu direkt an die Drusen Syriens: »Wir reichen unseren Brüdern, den Drusen in Syrien, die Brüder unserer israelischen drusischen Brüder sind, vor allem eine Hand des Friedens.« Im Januar trafen sich israelische Minister unter Leitung von Verteidigungsminister Israel Katz, um geheime Pläne zur Aufspaltung Syriens zu diskutieren. Der Führer der syrischen Drusen, Scheich Hikmat Al-Hidschri, wies das israelische Vorhaben wie auch die israelische Militärinvasion allerdings in deutlichen Worten zurück und beschwor die territoriale Integrität seines Landes. Schon in den 1970er Jahren hatte man in Israel von einem separaten »Drusenstaat« fabuliert. Auch damals lehnte die große Mehrheit der im Libanon, in Syrien und Israel verwurzelten Minderheit diese Pläne ab.

Vergangene Woche kündigte das Justizministerium der demokratisch nicht legitimierten syrischen Regierung an, einen Sonderermittlungsausschuss einzusetzen, der die zwischen dem 13. und 23. Juli von dem Verteidigungsministerium unterstehenden Milizen begangenen Massaker an Drusen im Süden Syriens mit mindestens 1.500 Toten untersuchen soll. Dort gilt zwar eine brüchige Waffenruhe, Suweida wird aber weiterhin von Truppen der Regierung belagert. Die Bewohner leiden unter einem Mangel an Lebensmitteln, Wasser, medizinischer Versorgung und Treibstoff. Ein ähnliches, für die Untersuchung der im März von »Sicherheitskräften« verübten und bis heute andauernden Massaker an Syriens Alawiten eingesetztes Komitee hatte die Veröffentlichung der Ergebnisse verschleppt und die Gewalttaten danach verharmlost. Die Täter, die sich teilweise selbst bei ihren Verbrechen gefilmt haben und später auch in Tötungs-, Folter- und Enthauptungsvideos aus Suweida auftauchten, wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, einige wurden sogar befördert. Weil der Bericht unter anderem die Verantwortung syrischer Behörden negierte, hat der Oberste Alawitische Rat eine neuerliche unabhängige Untersuchung unter Leitung der UNO gefordert.

Hintergrund: Übergang auf Dauer

Inmitten der Massaker an syrischen Minderheiten hat Damaskus Ende Juli angekündigt, zwischen dem 15. und 20. September Parlamentswahlen abhalten zu wollen. Dabei sollen allerdings nur zwei Drittel der Parlamentssitze gewählt werden, den Rest ernennt der »Präsident«. Noch im März hatte der als Abu Mohammed Al-Dscholani und Chef der Kopfabschneiderbande Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) bekannte, sich jetzt mit seinem bürgerlichen Namen Ahmed Al-Scharaa ansprechen lassende Interimspräsident gesagt, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung könne mehrere Jahre dauern. Bis dahin solle es bei einem Interimsparlament bleiben.

Kurz zuvor hatte Frankreichs oberster Gerichtshof einen Haftbefehl wegen Mittäterschaft bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit gegen den im Dezember gestürzten Baschar Al-Assad aufgehoben. Die Begründung: Assad genieße Immunität, weil er damals Präsident Syriens war. Das durchkreuzt die Behauptung westlicher Regierungen, Assad sei – weil er ihnen politisch nicht genehm war – nicht mehr legitimer Präsident Syriens gewesen. Statt dessen hatte man nicht gewählte Oppositionsgruppen als Quasiregierung im Exil anerkannt. Begründet worden war der Haftbefehl mit zwei Chemiewaffenangriffen im Umland von Damaskus, wobei zahlreiche Indizien erhebliche Zweifel an der Urheberschaft der Regierung Assad aufkommen lassen.

Derweil sucht Russland, einst einer der engsten Verbündeten der Regierung Assad, immer engere Kontakte zur derzeitigen syrischen Regierung, die Moskau die Beibehaltung seiner bedeutenden Militärstützpunkte in Syrien erlaubt. Am 31. Juli empfing der russische Außenminister Sergej Lawrow zum ersten Mal den syrischen »Außenminister« Asaad Al-Schaibani. Bei dieser Gelegenheit lud er den syrischen »Präsidenten« zu einem bevorstehenden Gipfeltreffen zwischen Russland und der Arabischen Liga nach Moskau ein. (wd)

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