Das Hitchhiking des Grauens
Von Thomas Gsella
Vor wieviel Jahren nun genau ich dreißig war, ist eine Frage mittlerer Brisanz. Belassen wir es bei der Auskunft: Ich war es. Richtig viel älter bin ich übrigens nicht. Hätten wir Steinzeit, wäre ich vielleicht Druide; im Deutschland des dritten Jahrtausends bin ich aber selbstverständlich ein Mann in den besten Jahren, welche so heißen, weil sie in allen Aspekten die besten sind.
Die besten Gelenk- und Rückenschmerzkicks meines Lebens habe ich heute, und länger als fünfhundert Meter bzw. zehn Minuten jogge ich am besten nicht. Sonst wird mir nämlich schlecht oder sonstwie kraftlos zumute, und ich muss mich sofort hinlegen. Im Sommer ist das ein cooles Gefühl, auf der Wiese oder irgendwo auf einem Waldweg zu liegen und dem blauen Himmelsrund untätig zuzublinzeln. Wie früher als Gammelstudent oder Säugling. Im Winter ist es sogar noch cooler, vor allem vom Boden her, und darum habe ich beim Eintritt in die besten Jahre mit dem Joggen und überhaupt mit hastigen Bewegungen aufgehört.
Glücklicherweise muss ich auch beruflich viel sitzen, was plötzliches Umfallen weitgehend ausschließt. Um es vollkommen auszuschließen, habe ich in unserer Wohnung zahlreiche Stühle verteilt, damit ich mich auf dem Weg vom Schreibtisch zur Terrasse, Küche oder Toilette immer noch mal setzen kann, wie beim Arzt, wo man ja auch eine Vielzahl von Stühlen nutzt. Vom Wartezimmerstuhl wird man auf einen Dielenstuhl zitiert, nach zwei Stunden auf einen Stuhl schon etwas näher am Sprechzimmer, nach weiteren vier Stunden und drei Stühlen kriegt man den Exzellenzstuhl direkt im Sprechzimmer, und wenn um Mitternacht die Arzthelferin kommt und sagt, der Doktor sei leider verstorben, hat man wunderbar ausgeschlafen und vergessen, was wehtat.
Solche Stuhlvorkommen gibt’s nun auch bei mir, meiner Frau macht es inzwischen richtig Spaß, um die vielen Beine geschickt herumzusaugen. Man kann also nicht sagen, ich hätte meine besten Jahre nicht bestmöglich eingerichtet, zumal auch das abendliche Bier viel schneller und lieber ins Blut geht, wenn man es in unbewegter Sitzhaltung geschehen lässt.
Trotzdem geriet ich kürzlich in eine Krise. Alles kam mir plötzlich einen Hauch zu starr vor; mir schien, als habe echter Rock’n’Roll doch früher anders ausgesehen, und ich erinnerte mich an meine wilden Jahre, damals, 1881 1981 … als ich durch Schweden trampte und mein Leben vor mir hatte und baumlange Haare … die ich in Pfützenwasser wusch, weil ich fand, dass das cool war, wenn sie wie in Öl getauchter Maschendraht abstanden von meinem Kopf und ich schön schimpfen konnte über die herzlosen Spießer, die mich einfach stehen ließen in ihren toten Ledervolvos … weshalb ich einmal in einer Schubkarre übernachten musste in Mittelschweden, einer kleinen Vorgartenschubkarre, ich hatte ja kein Zelt, und der nackte Augustnachtboden ist kalt in Mittelschweden … aber was heißt hier »ich«, wir waren zu zweit, der dicke Raimund und ich zu zweit in dieser winzigen Schubkarre, es war zum Zähneknirschen und -klappern, aber eben auch völlig bescheuert und super …
– und so ging ich, im letzten Sommer war’s, auf eine Reise, die so todesmutig war, dass ich um ein Haar an ihr verstorben wäre. Überlebt habe ich nur, damit ich dieses Buch hier noch schreiben konnte.
*
Vierzehnhundert Kilometer sind es vom nordbayerischen Aschaffenburg ins sizilianische Palermo, das bedeutete acht Tage, wenn es gut lief, und warum hätte es schlecht laufen sollen? Meine Haare sind heute zuwenig, um nass oder gar schmutzig zu werden, mein Anzug war frisch gereinigt und auch mein Gepäck über jeden Zweifel erhaben: der Rucksack von Outdoor oder wie und der Instrumentenkoffer von Winter. 900 Euro hatte ich für ihn springen lassen, auf dass meine edle Tuba unterwegs gut verpackt war. Viertausend Schleifen haben beide gekostet, zwei Fender Strats von 1971 habe ich verkauft, damit ich Schumanns »Ave Maria« endlich selber blasen kann. Woodstock bizarr also; aber jede Generation X hat eben ihren Sound! Ihre christlichen Blasmusikvorlagen!
Am ersten Tag kam ich bis Hösbach, fast fünf Kilometer, spätabends entdeckte mich eine Freundin meiner Frau und brachte mich wieder nach Hause. Ich bat sie, es niemandem zu verraten, simste meiner Liebsten, ich käme astrein voran, nahm den Nachtzug nach München und stand am nächsten Morgen an der A46-Auffahrt Richtung Mailand: todmüde zwar, aber äußerst deprimiert und mutlos.
Hunger und Durst waren auch da.
Zum Glück begann es zu regnen, ein lauer Sommerwolkenbruch. Ich hielt meinen offenen Mund hinein und trank. Dann legte ich mir den Tubakoffer auf den Kopf, fingerte mein Handy aus der Arschtasche und wählte die Kurzwahl 5. Es tutete.
»Taxi München, Sie wünschen?«
»Bitte kommen Sie zur Auffahrt A46 Richtung Süden. Unter einem Koffer steht ein nasser Mann, den Sie bitte wortlos zum Bahnhof bringen. Wann ungefähr können Sie … Moment … das darf doch … Wahnsinn …«
»Hallo? – Hallo?!«

Ich drückte auf Rot.
Neben mir stand ein sechs Meter langer Buick. Stumm lächelte eine junge Frau heraus und wies mit dem Daumen auf die Rückbank. Ich schob die Tuba und mich hinein, registrierte den süßen schweren Geruch alten Leders und entdeckte den Fahrer, jung wie seine Freundin. Beide hatten baumlange Haare, die aussahen, als hätten sie ein Pfützenbad genommen.
*
Die zwei waren lustig. Um mich wegen meines schlechten Italienisch nicht zu beschämen, sagten sie mir nach dem Einstieg nur ihre Namen, Maria und Silvio, dann brausten sie los auf ihren vierhundert PS und sagten bis zu meinem Ausstieg gar nichts mehr. Sie lachten. Sie lachten über die Autos, die sie nun, zwischen München und Kitzbühel, fliegend überholten, sie lachten über Kühe auf der Wiese, über Bauernhöfe am Weg und Kirchtürme am Horizont, sie lachten, wenn sie sich anschauten oder zu mir umdrehten, sie lachten über alles. Zuerst dachte ich, das komme von der Zwei-Liter-Rotweinbombe, die schwungvoll zwischen ihnen pendelte, und war ein bisschen froh, dass die dann bald leer war. Mir schien, die beiden hätten genug. Immerhin begannen nun die Tiroler Alpen.
Zur Beruhigung legte Maria Musik auf, während der ganzen Fahrt war es meine Musik, es begann mit »Stairway to Heaven« von Led Zeppelin, und beide lachten. Das Auto besaß, so was hatte ich noch nie gesehen, vorne einen Plattenspieler, einen echten Langspielplattenspieler mit Zauberfederung, rechts neben dem Schalthebel, und die Boxen waren unsichtbar, aber gut. Ich tippte auf acht Stück à 2.000 Watt, lehnte mich zurück und gab mich meinen Eindrücken hin.
Mein erster Eindruck war, dass die Rotweinbombe plötzlich wieder voll war und nun noch eifriger pendelte. Als die Stelle kam, wo man zwischen Tunnel und dem alten Hochpass wählen kann und Mario lachend den Pass nahm, schloss ich die Augen und wunderte mich kurz darauf, um wieviel süßer das Autoleder plötzlich roch. Oder war es die Bergluft? Die Musik? In einer kurvenfreien Phase kuckte ich nach und sah, dass Rotwein Nr. 2 ein Pendelgeschwisterchen bekommen hatte, eine etwa möhrenlange sogenannte Tüte, ein kapitales Kifferle, eine wahre Schultüte von Hammertrichter, und natürlich war sie, jetzt verstand ich, nicht die erste. Bald wurde das Lachen noch lustiger.
Die ersten Pillen nahmen sie zehn Minuten vorm Kamm, zwölfhundert Meter überm Meeresspiegel. Es waren bunte Speeds, ich kannte die Farben von früher. Und tatsächlich wurde alles noch schneller. Die beiden quietschten nun regelrecht vor Lachen, und das Auto quietschte mit, vor allem in den Kurven. Ein Buick ist ja kein wirbelloses Weichtier, nicht mal ein Steinbock, sondern eher in Tälern zu Hause, und wenn er mit hundertzehn Meilen pro Stunde eine Fünfmeterkurve nimmt, macht er Geräusche. Rotwein Nr. 2 war nun gleichfalls alle, und die zwei lachten sich tot, wenn die Fliehkraft sie mal wieder auf die Gegenfahrbahn trug und wir den heranpolternden Tanklastwagen trotzdem noch ausweichen konnten.
Es war die lustigste Fahrt meines Lebens. Einmal machte sogar die Plattennadel einen Freudenhüpfer, bei »Brown Sugar« von den Stones und einer scharfen Rechtskurve, in der wir leicht gegen die Alpen ditschten, man hörte die Scheinwerfer bröseln, »hahaha!«, und zur Belohnung drehte sich Silvio eine neue Schultüte. Er konnte tatsächlich gleichzeitig fahren und drehen und musste es auch, weil Maria oft beide Hände zum Rotweintrinken nahm, vor allem bei neuen Flaschen.
Aber dann, endlich, ging es abwärts nach Südtirol. »Endlich« auch deswegen, weil Silvio offenbar darauf gewartet hatte, den Brenner-Südserpentinen mal zu zeigen, was ein Buick ist. Heute wissen die Brenner-Südserpentinen: Ein Buick ist ein wildes Auto, das abwärts und gerade auch vor engen Kurven nicht runterschaltet, sondern hoch. Damals wussten sie es noch nicht und waren zuerst überrascht, so etwas auf sich zu spüren. Dann rieben sie sich die Hände. Der Ruhm von Serpentinen bemisst sich ja nach der Anzahl der Abstürze, und bei uns waren sie sich gewiss sicher wie nie. Es war, als ob der gesamte Südpass informiert und instruiert wäre, so enger und enger präsentierten sich die Kurven und steiler und ungeschützter die Abhänge.
Ich schaute aus dem rechten Rückfenster, wusste mich zu groß, um in eine Tuba zu krabbeln, und genoss die Aussicht auf allerhand malerische Felsvorsprünge und Schluchten. Als wir in einer besonders scharfen Kurve für zwei Sekunden auf zwei Reifen fuhren, wollte ich plötzlich nicht mehr sterben und schrie: »Haaalt! Stop! I go by … dings … feet! Finito!«
Das Wunder geschah: Lachend hielt Silvio an, lachend hielt mir Maria die Tür auf, beide hielten eine Winkhand aus dem Fenster, als sie lachend weiterbretterten. Nach fünf Stunden war ich in Bozen, nahm den Nachtzug nach Neapel, simste meiner Frau, ich käme astrein voran, brachte die Tuba ins Hotel und sprang ins Meer.
Ob ich je wieder trampe? Sehr lustig. Aber das Erlebnis hat uns beide verjüngt, mich und mein Leben. Ich denke wieder ans Joggen, rund zehn Minuten pro Monat. Und immer öfter stehe ich vom Schreibtisch auf und lege den Weg zur Terrasse, Küche oder Toilette in einem Rutsch zurück.
Es kommt der Tag, an dem ich Stühle abzugeben habe.
Thomas Gsella, Jahrgang 1958, ist Dichter und Schriftsteller, vor allem komischer. Er war viele Jahre lang Redakteur und von 2005 bis 2008 Chefredakteur des Frankfurter Satiremagazins Titanic. Seine Gedichte und Geschichten erscheinen in allen führenden deutschsprachigen Printmedien, natürlich auch in junge Welt
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