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Aus: Ausgabe vom 28.07.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Krieg gegen Gaza

Diesmal wird es anders

Die Presseweste als Gefahr: Plestia Alaqads Aufzeichnungen über die ersten Wochen nach dem 7. Oktober im Gazastreifen
Von Dieter Reinisch
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Die Katastrophe abbilden: Der für die türkische Nachrichtenagentur Anadolu tätige Fotojournalist Anas Zeyad Fteha in Gaza-Stadt (24.7.2025)

Plestia Alaqad gehört inzwischen zu den bekanntesten Journalistinnen aus Gaza. In den sozialen Medien hat sie Millionen an Followern, allein auf Instagram sind es 4,1 Millionen. Sie wollte schon immer über »ihren Gazastreifen« berichten, schöne Dinge, die Menschen Freude bereiten, schreibt sie. Seit ihrer frühesten Jugend wollte sie nach eigenem Bekunden Journalistin werden. Dass sie es schließlich wurde, macht die heute 23jährige nicht glücklich. Es hätte alles anders kommen sollen.

Geboren Ende 2001, wuchs sie in Gaza in offenbar vergleichsweise privilegierten Umständen auf – ihre Mutter war Leiterin der American International School. Es war trotz aller Bedrängnisse und Einschränkungen in dem abgeriegelten Küstenstreifen eine anscheinend glückliche Kindheit und Jugend. Die Erinnerungen klingen gar nicht anders als die, die Menschen in anderen Ländern an ihre Jugend haben: Mit ihren Klassenkameraden ging sie oft an den Strand, um in Cafés bis spät in den Abend Tee zu trinken. Nach dem Schulabschluss wollte sie Journalismus studieren und erhielt ein türkisches Stipendium für eine Universität in Nord-Zypern. Ihre Mutter sah das nicht gerne.

Um so größer die Freude bei ihrer Rückkehr nach dem Universitätsabschluss. Alaqad fand wieder Gefallen an dem Leben in Gaza. Sie konnte alte Freunde treffen und suchte Arbeit in der Medienbranche. Sie knüpfte Kontakte, fand Mentoren und absolvierte ein Praktikum im Palestine Media Centre. Sie war voller Tatendrang, schreibt sie, doch die Jobs, die sie in Redaktionen erhielt, schmiss sie zumeist nach nur wenigen Wochen wieder hin: »Ich wollte nicht den ganzen Tag an einem Schreibtisch sitzen, ich wollte rausgehen, mit Menschen sprechen und berichten, was ich erlebte.« Der Redaktionsalltag machte ihr keine Freude.

Dieses Leben geriet, wie das von Millionen anderen, am 7. Oktober 2023 vollkommen aus den Fugen. Zwei Tage danach beginnt Alaqad auf ihrem Instagram-Account über das Leben unter israelischen Bomben zu berichten. Ein befreundeter Produzent ruft sie an: »Willst du für einen internationalen Sender live berichten?« Alaqad geht erstmals auf Sendung. Noch ist sie sich der Tragweite der Kämpfe nicht bewusst, aber ihre Mutter ahnt bereits, dass »es diesmal anders werden wird«.

Alaqad wird Menschen auf der ganzen Welt bekannt als »The Eyes of Gaza«. So nennt sie ihren Instagram-Account, und das ist auch der Titel ihres Buchs, in dem sie in Form von Tagebucheinträgen ihr Leben als Korrespondentin in den ersten Wochen nach dem Beginn dessen beschreibt, was von immer mehr Beobachtern ein Genozid genannt wird. Mit Kameramann Hatem und Produzent Mohammed fährt sie durch den Küstenstreifen und berichtet von den Angriffen, aus Krankenhäusern, den Zeltstädten. Die alte Soldatenweisheit, dass die Kugeln und Artilleriegeschosse, die man pfeifen hört, nicht die sind, die einen treffen, formuliert sie auf andere Weise neu: »Solange du die Raketen hörst, ist es gut. Denn diejenige, die dich umbringt, wirst du nicht hören.«

Physisch und psychisch wird die Arbeit von Tag zu Tag schwieriger. Das kleine TV-Team wird zunehmend an seine Grenzen gebracht: Kommen die drei an die Stelle eines Raketenangriffs, müssen sie entscheiden, ob sie Hilfe leisten oder berichten: »Journalistin in Gaza zu sein bedeutet, jeden Tag entscheiden zu müssen, was die schlimmste Geschichte ist, über die du berichtest«, schreibt Alaqad. Und jeden Tag werden ihre Erfahrungen dramatischer.

Nachts hält sie ihre Erlebnisse schriftlich fest, im Auto oder auf einer Couch ihres Onkels. Tagsüber reden Hatem, Mohamed und sie darüber, wie sie wohl sterben werden. Immer dabei: Die Presseweste und der Helm. Sie trägt beides mit Stolz, sie fühlt sich vorläufig geschützt. Doch das erweist sich Illusion. Zuerst hat ihre Mutter Angst, dass sie nicht trotz, sondern genau wegen der Pressemarkierung von israelischen Drohnenpiloten ins Visier genommen werden könnte. Sie nimmt daher das Presseequipment nicht mehr in Wohnhäuser mit. Täglich sterben Kollegen. Alaqad überlebt: Die Familie kann Ende November 2023 zu einem Onkel nach Australien ausreisen.

Andere hatten dieses Glück nicht: Bis heute wurden 232 Medienarbeiter in Gaza getötet – mehr als in allen anderen bisherigen bewaffneten Konflikten zusammengenommen. »The Eyes of Gaza« ist die traurige, aber zugleich eindrucksvolle Schilderung des Versuchs, inmitten eines Genozids über das Geschehen zu berichten.

Plestia Alaqad: The Eyes of Gaza. A Diary of Resilience. Macmillan, ­London 2025, 176 Seiten, 19 Euro

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