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Aus: Ausgabe vom 24.07.2025, Seite 8 / Ansichten

Durchlöcherte Heimatfront

Protest gegen Selenskij
Von Arnold Schölzel
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»Veto gegen das Gesetz«: Mit dem Vorgehen gegen die Antikorruptionsbehörde riskiert Selenskij die letzten Sympathien (Kiew, 22.7.2025)

Hat der ukrainische Präsident seine Schuldigkeit getan? Seit vergangener Woche erschienen in britischen und US-Medien Artikel, wonach die Ukrainer »den Glauben an Selenskij verloren« (so etwa der britische Spectator) hätten. Am Mittwoch titelte die New York Times: »Proteste zu Kriegszeiten in der Ukraine richten sich erstmals gegen Selenskij«. Der Protest vor dem Präsidentenbüro im Zentrum Kiews, an dem sich Zivilisten und Soldaten beteiligt hätten, sei der »bislang tiefgreifendste Bruch in der nationalen Einheit, die der Ukraine geholfen hat, einen zermürbenden und blutigen Kampf gegen die russische Invasion zu überstehen«.

Das Schweigen Selenskijs zu den Protesten und die reichlich negativen Reaktionen aus den EU-Hauptstädten besagen: Da hat jemand einen politischen Fehler oder eine Dummheit begangen, was nach einem Talleyrand zugeschriebenen Bonmot schlimmer als ein Verbrechen sein soll. Die Folgen der Entmachtung beider Antikorruptionsbehörden sind allerdings noch nicht absehbar. Die EU-Größen versuchten offenbar, Selenskij von dem Vorhaben abzubringen. Entsprechend gereizt reagierten sie am Mittwoch auf die Eilbeseitigung ihrer Vorzeigeämter, die westliche Demokratie darstellen sollten. An der Einstufung des Landes in einschlägigen Korruptionsindizes, ungefähr bei Platz 105 von 180 Staaten, haben sie nichts ändern können.

Erst am Wochenende wiesen auch in der Bundesrepublik Medien zum Beispiel darauf hin, dass mit gefälschten Lkw-Führerscheinen, die der Freistellung vom Wehrdienst dienen können, in der Ukraine schwunghaft gehandelt werde. Als weitere Gründe für Missstimmung werden seit längerer Zeit militärische Misserfolge und die rüden Methoden der Rekrutierung für die Front angeführt. Videoclips, in denen Frauen Armeewerber mit Einkaufstaschen vertreiben, machen die Runde. Nach stabiler Heimatfront sah das nicht aus.

Hinzu kommt, dass Donald Trump irgend etwas gegen Selenskij persönlich hat und ihn abwechselnd unter eine kalte Dusche stellt oder – das höchste der Gefühle – vage Versprechungen für Militärhilfe abgibt. Die USA sollen seit 2022 ebenso wie die EU- und NATO-Europäer rund 122 Milliarden US-Dollar in das Kiewer Fass ohne Boden gekippt haben. Die Antwort von dort: Der neulich geschasste Ministerpräsident und jetzige Verteidigungsminister Denis Schmigal verlangt für 2026 Militärhilfe im Wert von 120 Milliarden US-Dollar.

An der Verkündung hiesiger Medien und Politiker, dass die Kiewer »unsere« Freiheit und Demokratie verteidigen, änderte das alles bisher nichts. Das gemeinsame Interesse der Westeuropäer und der neuen, durch Selenskij geschaffenen ukrainischen Oligarchen an endloser Kriegsverlängerung schuf eine stabile Allianz. Ob der Komiker im Präsidentenamt nun fallengelassen wird oder einen Fehler macht, tut wenig zur Sache: Seine Heimatfront ist durchlöchert.

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  • Leserbrief von P. Tiedke aus Golzow (24. Juli 2025 um 14:34 Uhr)
    Man bekommt zig Ratschläge, gibt man im Netz ein: »Wie werde ich meinen Ex los?« Die Organisation von »Massenprotesten« gegen (Ex-)Präsidentendekrete unter Kriegsrecht, die nicht behelligt werden und »Verständnis« bei den Selenski-Freunden (what ever its takes) im Westen finden, war bislang nicht darunter.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (24. Juli 2025 um 10:46 Uhr)
    Na sowas – der tapfere Held in Olivgrün, einst gefeiert wie ein Popstar auf den Weltbühnen, bekommt jetzt Gegenwind aus dem eigenen Land? Selenskij wurde vom Westen jahrelang nicht nur politisch, sondern auch moralisch gepanzert – unantastbar, unfehlbar, unersetzlich. Und plötzlich stehen Zivilisten und Soldaten Seite an Seite vor dem Präsidentenbüro in Kiew und wagen das Undenkbare: Protest – mitten im Krieg! Wer hätte gedacht, dass selbst die »Heimatfront« eine Sollbruchstelle hat? Oder handelt es sich eher um ein besonders realistisches Puppenspiel, bei dem beide Seiten am selben Spendenschnürchen zappeln? Wer zahlt, bestimmt – auch darüber, wer demonstriert und wann. Die Selenskij-Kasse klingelt jedenfalls nicht mehr wie früher. Trump winkt müde ab, Brüssel zeigt sich zunehmend gereizt, und selbst in Berlin dämmert es langsam, dass dieser Krieg kein Netflix-Drama mit Happy End wird. Bleibt nur die Frage: Wer räumt jetzt das Bühnenbild ab – und wer schreibt das letzte Kapitel? Selenskij jedenfalls scheint nur noch die Wahl zu haben, ob er als tragischer Held, abgehalfterter Darsteller oder unbelehrbarer Hofnarr von der Bühne geht. Die Heimreise ins politische Niemandsland dürfte er bald antreten – First Class, versteht sich. Bezahlt aus bewährter Quelle: westliche Solidaritätsmittel.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (24. Juli 2025 um 02:49 Uhr)
    »Hinzu kommt, dass Donald Trump irgend etwas gegen Selenskij persönlich hat.« Nicht »irgend etwas«. Selenskij hat die Korruption und die undurchsichtigen Geschäfte in Zusammnhang mit der Familie Biden gedeckt. Er verweigerte Trump jegliche Zusammenarbeit bei der Offenlegung.

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