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Aus: Ausgabe vom 23.07.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Aufrüstungsfieber

Aus gutem Grund verboten

Mit dem »Typhon« greift die Bundesregierung nach einem Waffensystem, dessen Stationierung der aufgekündigte INF-Vertrag untersagt hatte
Von Jürgen Wagner
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Das erste »Typhon«-System des Herstellers Lockheed Martin stellte die US-Armee im Dezember 2022 in Dienst

Am 10. Juli vergangenen Jahres schlug eine deutsch-amerikanische Erklärung ein wie eine Bombe: Bis 2026 sollen diverse US-Mittelstreckenwaffen hierzulande unter US-Kommando stationiert werden. Insofern überraschte nun die neue Ankündigung, dass die Bundesregierung das US-Startsystem »Typhon« erwerben will, mit dem genau solche »Tomahawk«-Marschflugkörper und SM-6-Raketen abgefeuert werden können, die Gegenstand der US-Stationierungspläne sind. Ob die »Typhon«-Systeme deshalb als Alternative oder Ergänzung zu etwaigen unter direktem US-Kommando stehenden Mittelstreckenwaffen gedacht sind, ist eine entscheidende Frage – die allerdings am gefährlichen Charakter dieser Systeme nichts ändert.

Um Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, versicherte Verteidigungsminister Boris Pistorius umgehend, man hege keinerlei offensive Absichten, alles diene nur der Verteidigung. Der Haken an der Sache: Moskau kann sich auf derlei Verlautbarungen nicht verlassen, zumal genau das »Typhon«-Waffensystem für Angriffe tief im russischen Hinterland geradezu prädestiniert ist. Moskau dürfte also davon ausgehen, dass genau dies der Zweck sein soll. Das ist der Stoff, aus dem gefährliche Rüstungsspiralen gemacht sind.

Eine »Typhon«-Batterie besteht aus vier Lkws, auf die jeweils vier Startrampen montiert sind, von denen aus jeweils eine Rakete oder ein Marschflugkörper verschossen werden kann. In Betracht kommen dafür zwei Typen: entweder die Standard Missile 6 (SM-6), eine ballistische Flugabwehrrakete mit – relativ – kurzer Reichweite von 370 Kilometern und einer Bodenangriffsfähigkeit von derzeit 460 Kilometern laut US- bzw. 740 Kilometern nach russischen Angaben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde aber die in Entwicklung befindliche Variante 1B beschafft werden, die über Hyperschallfähigkeit und eine Reichweite von 1.600 Kilometern verfügen soll. Als zweites System käme der »Tomahawk« in Frage, der zwar relativ »langsam« (rund 900 Kilometer pro Stunde), aber als Marschflugkörper extrem tief und hochgradig manövrierbar fliegt. Für gegnerische Abwehrsysteme ist er damit nur schwer zu bekämpfen, wodurch bei einer Reichweite je nach Modell von 1.700 bis 2.500 Kilometer Angriffe auf Ziele auch in St. Petersburg und Moskau möglich würden.

Zu Zahl und Kosten der ins Auge gefassten Systeme hält sich das Verteidigungsministerium bedeckt. Betont wird dagegen, dass es sich um konventionelle Waffen handele. Und tatsächlich sind weder »Tomahawk« noch SM-6 – zumindest auf absehbare Zeit – atomar bestückbar. Überaus gefährlich sind sie aber trotzdem. Das »Entscheidende«, so Pistorius, sei »die Reichweite dieser Waffensysteme«, die »deutlich größer« sei als alles, was bislang in Europa verfügbar sei, wodurch eine wichtige Fähigkeitslücke geschlossen würde.

Tatsächlich handelt es sich hierbei im Gegensatz zu den bereits in großer Zahl vorhandenen luft- oder seebasierten Mittelstreckenwaffen um landgestützte Systeme, die aus gutem Grund bis zur US-Aufkündigung des INF-Vertrages im Februar 2019 verboten waren – denn see- und luftgestützte Waffen brauchen länger, um ihr Ziel zu erreichen, und damit bleibt Zeit für die Lagefeststellung und für einen etwaigen Gegenschlag. Sie sind damit per se nur bedingt offensiv für Überraschungsangriffe auf strategische Ziele (Radaranlagen, Raketensilos, Kommandozentralen) geeignet – ganz im Gegenteil zu den landgestützten Systemen, an denen sich Deutschland nun interessiert zeigt.

In einem Handelsblatt-Beitrag machte 2024 zum Beispiel Claudia Major, damals für die regierungsnahe »Stiftung Wissenschaft und Politik« tätig, aus dem offensiven Charakter dieser Waffen überhaupt kein Hehl: »Die ›Tomahawks‹ sollen bis zu 2.500 Kilometer weit fliegen können, könnten also Ziele in Russland treffen. Und ja, genau darum geht es.« Im Ernstfall müssten NATO-Staaten »auch selbst angreifen können, zum Beispiel, um russische Raketenfähigkeiten zu vernichten, bevor diese NATO-Gebiet angreifen können.

Russland hat auf diese Entwicklung bereits reagiert. Da sich die Zeitfenster für die Lagefeststellung drastisch reduzieren, wurde mit Präsidentenerlass Nr. 991 im November 2024 die nukleare Einsatzschwelle gesenkt – es kann jetzt, kurz gesagt, früher »auf Verdacht« zurückgeschossen werden. Und nahezu zeitgleich wurde erstmals eine russische Mittelstreckenwaffe (»Oreschnik«) in der Ukraine eingesetzt. Da das gleichzeitige russische Angebot, zu einem Verbot landgestützter Mittelstreckenwaffen zurückzukehren, vom »Westen« erst gar nicht beantwortet wurde, sind inzwischen die Produktion und Stationierung dieser und anderer Mittelstreckenwaffen angekündigt worden. So sollen bis Ende 2025 zum Beispiel »Oreschnik«-Systeme in Belarus stationiert werden.

Bleibt noch die Frage, ob die Kaufabsichten darauf hindeuten, dass die US-Regierung von der noch unter ihrem Vorgänger gefällten Entscheidung abrücken will, eigene Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren. Hier läuft aktuell eine Überprüfung, deren Ergebnisse frühestens im September vorliegen sollen. Für den Kauf der »Typhon«-Systeme wäre eine Zustimmung des Bundestages erforderlich, doch die dürfte sicher sein. Schließlich legt die BRD augenscheinlich ein großes Interesse an den Tag, über diese Waffensysteme und die dazugehörigen Angriffsoptionen zu verfügen – wenn nicht über eine direkte US-Stationierung, dann über den Erwerb der »Typhon«-Systeme und perspektivisch durch die Entwicklung eigener Waffensysteme.

HintergrundWiderstand lebendig

Gegen die geplante Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland formiert sich Widerstand. Am 3. Oktober 2024 wurde hierfür der Berliner Appell »Gegen neue Mittelstreckenwaffen und für eine friedliche Welt« gestartet, der bislang von über 75.000 Menschen unterzeichnet wurde und in dem es unter anderem heißt: »Wir leben im gefährlichsten Jahrzehnt seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Gefahr, in einen atomaren Abgrund zu taumeln oder durch einen konventionellen Krieg umzukommen, ist real. An dieser Weggabelung stehen wir für eine friedliche und solidarische Welt der gemeinsamen Sicherheit, Solidarität und Nachhaltigkeit für alle Menschen. Wir sagen nein zur Aufstellung neuer US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland!«

Kurz darauf wurde im November 2024 die Kampagne »Friedensfähig statt erstschlagfähig. Für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen« ins Leben gerufen, in der sich mehr als 55 Organisationen und Gruppen engagieren. Die Kampagne fordert den Stopp der geplanten Stationierung von Mittelstreckenwaffen und will Proteste gegen diese Pläne unterstützen. Sie fordert zudem den Abbruch eigener Waffenentwicklungsprojekte in diese Richtung sowie ein Folgeabkommen zum INF-Vertrag und damit ein Verbot landgestützter Mittelstreckenwaffen auf allen Seiten. Auch den jüngst bekannt gewordenen »Typhon«-Ankaufsplänen steht die Kampagne ablehnend gegenüber. In einer Pressemitteilung wird ihr Sprecher Simon Bödecker mit den Worten zitiert: »Indem sie immer mehr auf Mittelstreckenwaffen setzt, leistet die Bundesregierung der Sicherheit Europas einen Bärendienst. Abschreckung bringt keine Sicherheit! Diese Waffen wirken destabilisierend und erhöhen die Eskalationsgefahr durch Fehleinschätzungen.« (jwa)

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