»Weniger Geld bedeutet mehr Tote im Mittelmeer«
Interview: Kristian Stemmler
Das Auswärtige Amt will die ohnehin bescheidene Unterstützung für die zivile Seenotrettung streichen. Hat Sie überrascht, dass das am Ende eiskalt durchgezogen wird?
Angesichts des unmenschlichen Koalitionsvertrags und der Aussetzung legaler Fluchtmöglichkeiten wie dem Familiennachzug überrascht uns die Entscheidung von CDU und SPD, selbst die lächerlich geringe Unterstützung für zivile Seenotrettung zu streichen, kaum. Das Signal, das die deutsche Bundesregierung sendet, kann klarer nicht sein: Das Mittelmeer ist und bleibt ein Massengrab. Wer staatliche Verbrechen an Grenzen aufdeckt, wird zum Schweigen gebracht.
Welche Folgen hat die Streichung der Mittel in Deutschland für die Arbeit der Seenotrettungsorganisationen?
Am Ende bedeutet weniger Geld immer weniger Rettungseinsätze und mehr Tote im Mittelmeer. Allerdings waren die Zuschüsse ohnehin nicht mehr als ein Feigenblatt. 2024 wurden circa zwei Millionen Euro an Seenotrettungsorganisationen wie Sea-Eye und SOS Humanity ausgeschüttet; Anfang dieses Jahres waren es zusätzlich um die 900.000 Euro. Dies entspricht insgesamt noch nicht einmal dem Jahresbudget einer der beiden Organisationen. Sea-Watch selbst hat keine staatlichen Gelder beantragt. Wir wollten keine Gelder von einem Staat annehmen, der für das Ertrinkenlassen im Mittelmeer verantwortlich ist. Außerdem konnten wir uns unsere Unabhängigkeit dank unserer großen Spenderbasis leisten.
Außenminister Johann Wadephul, CDU, behauptete schon vor zwei Jahren, die Seenotretter ermöglichten die Geschäfte der »Schleuserbanden«, seien ein »Pull-Faktor«, also ein Anreiz für die Menschen, übers Mittelmeer zu flüchten.
Diese Behauptung ist in den letzten Jahren ein ums andere Mal widerlegt worden. Zum Beispiel vor zwei Jahren durch eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Harvard und des deutschen Instituts für Inte-grations- und Migrationsforschung. Was jedoch eindeutig belegt ist: der Zusammenhang zwischen weniger Rettungskapazität und mehr ertrinkenden Menschen. Belegt ist auch die völkerrechtswidrige Zusammenarbeit zwischen der Grenzagentur Frontex und der sogenannten libyschen Küstenwache, um Menschen nach Libyen in Folter und Sklaverei zu entführen.
Die Arbeit von Sea-Watch und der anderen auf dem Mittelmeer aktiven Organisationen wird auch von Anrainerstaaten behindert.
Seit Jahren werden zivile Seenotrettungsschiffe blockiert und kriminalisiert. Seit der Machtübernahme der neofaschistischen Regierung Giorgia Melonis im Oktober 2022 wurden Rettungsschiffe 29mal illegitim festgesetzt. Nach Rettungen werden sie in weitentfernte Häfen Italiens geschickt – bis zu 1.600 Kilometer entfernt. Über 1.300 Tage Einsatzzeit sind dadurch verlorengegangen.
Die Kriminalisierung betrifft auch zivile Flugzeuge, die als Augen über dem Mittelmeer die einzigen sind, die Staatsverbrechen beobachten. Und Menschen auf der Flucht landen im Gefängnis, weil sie ihr eigenes Fluchtboot steuern müssen oder Wasser an Mitflüchtende verteilen. In der EU werden jahrzehntelange Freiheitsstrafen verhängt für nichts anderes als die Suche nach Sicherheit. Die deutsche Bundesregierung ist Teil dieses Systems. Bundeskanzler Friedrich Merz ist sich in Sachen tödlicher Migrationspolitik mit Meloni recht einig.
Menschen aus Seenot zu retten, ist eine der ältesten Regeln auf See, heute völkerrechtliche Verpflichtung. Müssten Deutschland respektive die EU nicht eigentlich die Rettung auf dem Mittelmeer selbst in die Hand nehmen?
Ja, das müssen europäische Staaten. Deswegen fordern wir auch seit unserem Bestehen ein europäisches Seenotrettungsprogramm, sichere Fluchtwege und Bewegungsfreiheit für alle Menschen. Zivile Organisationen sind nur Lückenfüller, wir sind nicht die Lösung. Doch solange die EU ihre Außengrenzen zu Massengräbern macht, werden wir dokumentieren, retten und anklagen. Sei es auf dem Mittelmeer, in der Sahara oder in den Wäldern Polens.
Giulia Messmer ist Sprecherin des Vereins Sea-Watch, dessen Zweck die zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer ist
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