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Aus: Ausgabe vom 16.07.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrien

Teile und herrsche

Syrisch-israelisches Treffen in Baku: Auf dem Weg zu einem »Normalisierungsabkommen«. Rückgabe besetzter Golanhöhen nicht enthalten
Von Wiebke Diehl
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Das neue Syrien: Kämpfer der dschihadistischen HTS auf dem Weg in die drusische Stadt Suweida (15.7.2025)

Die direkten Verhandlungen zwischen Israel und Syrien unter der demokratisch nicht legitimierten Regierung des »Übergangspräsidenten« und Dschihadistenführers Ahmed Al-Scharaa über ein »Normalisierungsabkommen« nehmen immer deutlichere Konturen an: Am Sonnabend trafen Vertreter beider Länder am Rande des Besuchs Al-Sharaas in Aserbaidschans Hauptstadt Baku zusammen, wie eine diplomatische Quelle aus Damaskus gegenüber AFP bestätigte. Es war das erste offizielle Treffen zwischen Syriens De-facto-Staatschef und dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev, nachdem der von Scharaa gegründete Al-Qaida-Ableger Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) im Dezember in Damaskus die Macht übernommen hatte.

Aliyev unterhält nicht nur zum HTS-Förderer Türkei, sondern auch zu Israel ausgezeichnete Beziehungen. Bei der Zusammenkunft, die der Wiederherstellung der bilateralen Beziehungen diente, kündigte er eine zeitnahe Aufnahme von Erdgasexporten über die Türkei nach Syrien an. So wolle man dort zur Energiesicherheit beitragen. Zudem prüfe man eine Beteiligung am Wiederaufbau der zerstörten syrischen Energieinfrastruktur. Die wichtigsten Ölfelder befinden sich unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und US-amerikanischer Besatzungssoldaten. Dass Syrien, das zudem bis vor kurzem unter US- und EU-Sanktionen litt, nicht auf seine eigenen Ressourcen zurückgreifen konnte und diese zudem von der US-Armee in Kooperation mit den SDF außer Landes geschafft wurden, hat die Regierung Baschar Al-Assads erheblich geschwächt und zu ihrem Sturz beigetragen.

Zu Landverzicht bereit

An dem israelisch-syrischen Treffen nahm Scharaa den Angaben zufolge selbst nicht teil. Er hat sich in der Vergangenheit offen für ein sogenanntes Normalisierungsabkommen mit Israel gezeigt und den Iran als gemeinsamen Hauptfeind bezeichnet. Laut Berichten israelischer Medien steht eine Rückgabe der besetzten und völkerrechtswidrig annektierten syrischen Golanhöhen bei den Verhandlungen nicht zur Debatte. Anders als die Regierung Assad hat die HTS-Miliz einen Verzicht auf das Gebiet signalisiert. Statt dessen konzentrieren sich die Gespräche auf die jüngste Militärpräsenz Israels in Syrien. Dass die Armee im Juni den syrischen Luftraum nutzen konnte, um einen unprovozierten und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Iran zu führen, deutet darauf hin, dass »Sicherheitsvereinbarungen« zwischen Damaskus und Tel Aviv bereits in Kraft sein könnten.

Die israelische Armee hat inzwischen mindestens neun Militärstützpunkte auf syrischem Gebiet errichtet und kontrolliert eine sogenannte Pufferzone. Zudem hat die Luftwaffe nahezu die gesamten syrischen Militärarsenale und die Militärinfrastruktur ausgeschaltet. All dies ohne jegliche Gegenwehr der HTS-Milizen, die inzwischen als »Sicherheitskräfte« fungieren. Israel kontrolliert zudem 30 Prozent der syrischen Wasserversorgung und steht nur 20 Kilometer von der Hauptstadt Damaskus entfernt. Soldaten nehmen regelmäßig Verhaftungen von Personen, die angeblich mit Iran in Verbindung stehen, auf syrischem Gebiet vor. So wurden zum Beispiel Anfang Juli zwei Brüder aus einem Dorf in der Provinz Kuneitra verschleppt. Angeblich gehörten sie einer von den Kuds-Brigaden der iranischen Revolutionsgarden befehligten Zelle an. Nur Tage zuvor hatte das Militär erklärt, Mitglieder einer »vom Iran gesteuerten Terrorzelle« im Süden Syriens festgenommen zu haben. Mitte Juni traf es angebliche Mitglieder der palästinensischen Hamas.

Drusen instrumentalisiert

Um ihre Kontroll-, Besetzungs- und wahrscheinlich auch Annexionspläne in Syrien (»Großisrael«) umzusetzen, instrumentalisiert die israelische Regierung regelmäßig Minderheiten, die sie angeblich schützen will. Am Montag zeigte sich diese Strategie erneut im südlichen Gouvernement Suweida, wo sogenannte Sicherheitskräfte auf der Seite von Beduinen gegen die drusische Bevölkerung vorgingen und infolgedessen fast 100 Menschen getötet wurden. Die israelische Armee griff, wie bereits in der Vergangenheit geschehen, unter dem Vorwand, den Drusen beistehen zu müssen, ein und attackierte gepanzerte Fahrzeuge der Truppen Al-Scharaas.

Zugleich fordert Tel Aviv eine »entmilitarisierte Zone« in den Provinzen Kuneitra, Deraa und Suweida, ein insgesamt 11.000 Quadratkilometer großes Gebiet, um dort ungestört als Besatzungsmacht fungieren zu können. Die drusische Führung sowie große Teile der drusischen Bevölkerung haben sich immer wieder gegen eine Einmischung Israels ausgesprochen. Als Premierminister Benjamin Netanjahu im März die Armee aufforderte, sich für die »Verteidigung« der Drusen im Damaszener Vorort Dscharamana bereitzuhalten, kam es dort zu spontanen Protesten gegen Israel. Die Drusen, die etwa drei Prozent der Bevölkerung ausmachen, hatten sich mehrheitlich mit der Regierung Assad arrangiert und begreifen sich als integralen Bestandteil Syriens. Den dschihadistischen Machthabern, die Minderheiten verfolgen, stehen sie mehr als misstrauisch gegenüber. Am Dienstag widerrief der religiöse Anführer der Drusen, Hikmat Al-Hidschri, laut Agenturmeldungen eine kurz vorher abgegebene Stellungnahme, in der das Vorgehen der HTS-Truppen in Suweida begrüßt wurde. Diese sei »unter Druck« zustande gekommen. In Wirklichkeit sehe sich die drusische Minderheit in Syrien mit einer »Kampagne zu ihrer Auslöschung« konfrontiert.

Hintergrund: Zedernstaat bedroht

Die libanesische Armee versucht, zu beschwichtigen: Berichte über das Eindringen extremistischer Kämpfer aus Syrien seien falsch, die Situation an der Grenze unter Kontrolle, so eine Erklärung vom Sonntag. Allerdings deuten immer zahlreichere Informationen darauf hin, dass mit den Machthabern in Syrien verbundene Milizen tatsächlich eine ernstzunehmende Gefahr für den Zedernstaat darstellen. So berichtete der libanesische Journalist und Experte für salafistische Gruppen, Nidal Hamada, am Wochenende, rund 1.200 Kämpfer seien auf dem Seeweg in die nordlibanesische Stadt Tripolis gebracht worden und könnten dort »innerhalb weniger Stunden« die Kontrolle übernehmen. Die Warnung Hamadas erfolgte, kurz nachdem der US-Sondergesandte Thomas Barrack fabuliert hatte, Syrien könne sich den Libanon einverleiben.

Ebenfalls am Wochenende verbreitete der Fernsehsender Al-Dschadid die Information, mehr als 100 Syrer seien beim Versuch, in den Libanon einzureisen, an der Grenze festgenommen worden. Bereits Anfang Juli hatte der israelische TV-Sender I 24 News behauptet, die demokratisch nicht legitimierte Scharaa-Regierung fordere im Gegenzug für die Aufgabe von zwei Dritteln der israelisch besetzten Golanhöhen die Kontrolle über Tripolis.

Anfang des Jahres und erneut im März waren tatsächlich syrische Milizionäre auf libanesisches Territorium vorgedrungen, hatten Familien vertrieben und Häuser geplündert. Sie gaben vor, gegen die Hisbollah zu kämpfen. Letztere hat während des 14jährigen Regime-Change-Kriegs die Regierung unter Baschar Al-Assad unterstützt. Begründet hat sie dies unter anderem mit der Notwendigkeit, den Libanon vor Extremisten schützen zu müssen. Die Schiiten und andere Minderheiten als »Ungläubige« bezeichnenden Dschihadisten, von denen die bewaffnete Gegnerschaft gegen Assad schon früh dominiert wurde, würden im Falle eines Siegs über die syrische Regierung auch in den Libanon einfallen und die Bevölkerung im Zedernstaat unterdrücken und terrorisieren. (wd)

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