Blut auf Plastik
Von Norman Philippen
Tempus vulnera sanat – Die Zeit heilt die Wunden, sagte der heute fast ausgestorbene Lateiner. Viereinhalb Jahre ist es her, da die Medienwelt vor Verzückung ganz aus den Verlagshäuschen war ob der erfolgreichsten bis dahin auf Netflix gestreamten Serie »Squid Game« aus Südkorea. Superlativisch war die Berichterstattung, auch dann, wenn das mehrheitlich diagnostizierte kritische Potential der nur neun Episoden der ersten Staffel als blutige Parabel oder Allegorie auf das todbringende Kinderspiel Kapitalismus nicht naiv affimiert wurde. Ein Pandemieende, paar laufende Kriege und unzählige Tote später scheinen eimerweise Blut auf pastelligen Plastikkulissen ihre Schockwirkung etwas eingebüßt zu haben. Medial bleiben die Kritikerfüße stiller. Nicht nur in deutschsprachigen Redaktionen geraten die Reaktionen verhaltener, die sich nun oft enttäuscht geben. Darob im Grunde, dass der dritten, angekündigt letzten Serienstaffel kein Happyend eingeschrieben wurde.
Will das Serienfinale doch einfach keinen Ausgang aufzeigen aus der mörderischen Misere des (selbst verschuldeten?) Systems der Lohnarbeit und Verschuldung. Gibt keine Handlungsanweisungen an uns armen Hascherl Hände. Auch nicht der Lohnschreiber, denen es mitunter heute peinlich sein könnte, mit der ersten Staffel Hoffnungen verbunden zu haben. Die nicht unerklärliche Einfallslosigkeit der Drehbuchautoren allerdings scheint entschuldbarer als die vermeintliche Entrüstung eines zum Beispiel Zeit-Autors, der beklagt, die »Serie verabschiede (…) sich mit einem Knall, aber auch einer Leere, die viele Fans zurücklässt«. Und sei, Schock lass nach, ein globales Franchise, das auch noch auf maximale Zirkulation aus ist. Oder wie es im Spiegel unter der Überschrift »Von Gesellschaftskritik zu purem Spektakel« steht: »Was als bitterböse Gesellschaftssatire begann, endet als blutiges Blockbusterspektakel.« Süßer noch der SWR, der »Kapitalismuskritik als Kommerzprodukt« diagnostiziert und fragt: »Was passiert, wenn Kapitalismuskritik zum Produkt wird?« Und merkt nicht, dass die Frage allenfalls im Präteritum keine drollige wäre. Denn wie pfiffen selbst die Punkspatzen schon vor 30 Jahren von den Platten und konnten also schon Teenager von damals wissen?: »Sie machen alles zu Plastik, es ist völlig egal / Sie nehmen den Hass und die Rebellion ab ins Regal …« (But Alive, »Bis jetzt ging alles gut«).
Die dritte Staffel von »Squid Game« setzt noch deutlicher als die zwei zuvor auf Schockmomente statt Substanz – und verliert dabei das, was die Serie einst für so viele Girokontobesitzer im Dispo so besonders machte. Nicht wenige darunter wünschten wohl, »Squid Game« würde aufzeigen, wie man das böse K kaputt kriegt. Wenn aber schon Großdenkende wie Fredric R. Jameson finden, es sei »leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«, sollte Drehbuchautoren dies verzeihlicherweise nicht leichter fallen. Und vollends unvorstellbar erscheint ein Szenario, in dem Regisseur Hwang Dong Hyuk und sein Team Netflix sagen: »Hört zu, ihr miesen kinokillenden, vereinzelnden Kapitalistenschweine. Wir sind die, denen ihr den erfolgreichsten je auf eurem satanischen Portal gestreamten Shit zu verdanken habt, wie ihr wisst. Und wir werden weitermachen mit unserer Fundamentalkritik des Systems, das euch reich macht. Mit Staffel zwei werden wir zeigen, dass sich ein Aufstand gegen Leute wie euch lohnt und siegreich sein kann. Mit der finalen Staffel werden wir euch endgültig den Stecker ziehen und dann eine egalitäre Weltordnung errichten, die für euch keinen Platz mehr kennen wird, also zieht euch warm an.« Würden die Netflixer da wohl sagen: »O. k., gute Idee, warum nicht?! Let’s do it, können wir dann endlich mal Vernünftiges tun, wieviel Geld braucht ihr demokratischen Sozialisten denn dazu so?« Glaube nicht.
So war es denn auch eher so, dass die Flixer sagten: »Cool von euch, dass ihr genug geschrieben habt für 13 neue Episoden. Nachdem wir denen jede substantiellere Kapitalismuskritik gestrichen haben, machen wir nach Episode sieben einen Cut und streamen den Restshit im Folgejahr als dritte Staffel. Der Fokus bleibt auf Blut auf Plaste statt auf Ausweg aus der Plastewelt. Dafür dürfen die hinter den Spielen steckenden Superreichen jetzt mehr, aber bitte superplatten Dialog haben. Ach ja, ein Baby wäre nicht schlecht. So als Symbol für irgendwas, Hoffnung oder so. Deal?« – »Deal.« So war es wahrscheinlicher.
So beginnt denn auch die am 27. Juni veröffentlichte – abermals alle Netflixrekorde sprengende – finale Staffel da, wo die zweite endete. Nach dem vergeigten, vom unerschütterlichen Menschenfreund Spieler 456 (Lee Jung Jae) angezettelten Aufstand. Es gibt ein paar weitere perverse Kinderkillerspiele um die umgerechnet ca. 30 Millionen US-Dollar Gewinn für den Last Man Standing. Neu ist, dass die »VIPs«, die die mörderischen Tintenfischspiele für die tief in der Tinte Steckenden finanzieren und natürlich amüsiert ansehen, nun auch undercover ins Geschehen eingreifen. Böse Sachen wie »Ich gehe regelmäßig jagen in Afrika, aber das hier war noch viel lustiger« dürfen sie danach sagen. Hinzu kommt der erhebliche Indifferenz erzeugende, lästig langatmige und am Ende auch noch praktisch überflüssige, da für die Story fast völlig bedeutungslose Erzählstrang um die Ermittlungen des guten Cops auf der Suche nach der Insel, auf der das »Squid Game« stattfindet. Dass der Cop dann auch noch der Bruder des Oberarschlochs hinter dem Game sein muss, setzt der Vorhersehbarkeit des Ganzen das Häubchen auf. Das dem Baby vielleicht fehlt, das am Ende Millionär wird.
Im Übrigen analysiert die dritte Staffel »Squid Game« die Sache ums Geld eben so tiefgründig wie schon zuzeiten der beiden ersten. Oder, in den Worten der lieben Omi, die aus Liebe ihren Sohn tötete: »Egal, wie man es auch dreht, unsere Welt ist einfach nicht gerecht. Böse Menschen tun ständig schlechte Dinge und leben seelenruhig weiter. Weil sie einfach andere beschuldigen. Und die guten Menschen, die quälen sich mit Selbstvorwürfen, wenn die winzigste Kleinigkeit schiefläuft und sie überhaupt nichts dafür können.« Und den Bösen fällt dazu nur Böses ein – »Sie hat ihren Sohn geopfert, nicht für Geld, sondern für irgendein anderes Baby, die ist komplett Irre.« Je nun. Nun ja.
»Squid Game«, von Hwang Dong Hyuk, Südkorea 2025, sechs Episoden à 55 Minuten, bei Netflix
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