Geist oder Ungeist
Von Erich Hackl
Der Publizist und Zeithistoriker Hellmut Butterweck hat ein Buch über den »Ungeist der Stunde Null« geschrieben, in dem er die Wurzel des gegenwärtigen Rechtsrucks im Journalismus der Monate April bis August 1945 zu finden glaubt: »Wie Österreich säte, was es heute hat«. Grundlage und Beweisstücke seiner Arbeit bilden mit der Österreichischen Zeitung und dem Neuen Österreich die ersten und für einige Wochen einzigen demokratischen Blätter, die schon kurz nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee erschienen sind.
Das Neue Österreich wurde als »Organ der demokratischen Einigung« von den Gründerparteien der Zweiten Republik, also ÖVP, SPÖ und KPÖ, ins Leben gerufen, die Österreichische Zeitung als »Frontzeitung für die Bevölkerung Österreichs« zuerst von der 3. Ukrainischen Front der Roten Armee, dann als offizielles Organ der sowjetischen Besatzungsmacht herausgegeben. Die österreichischen Redakteure und Mitarbeiterinnen beider Blätter waren Widerstandskämpfer, Rückkehrer aus dem Exil und Überlebende deutscher Konzentrationslager. Das rettet sie nicht vor Butterwecks Verdikt, sich eines »antifaschistischen« oder »subkutanen« Antisemitismus schuldig gemacht zu haben, der kaum besser gewesen sei als der tödliche Antisemitismus der Nazis; hatte es dieser darauf angelegt, die Juden zu vernichten, so war jener dem Autor zufolge darum bemüht, den Holocaust zu verschleiern. Butterwecks Vorwurf richtet sich insbesondere gegen Ernst Fischer, den kommunistischen Chefredakteur des Neuen Österreich, den er beschuldigt, »eine sowjetische Sprachregelung« übernommen zu haben, bei der die Opfer der Pogrome, Massenexekutionen und Vernichtungslager als »Menschen«, »friedliche Sowjetbürger«, »Europäer«, »Nazigegner«, »Zivilisten« oder »Kinder, Frauen und Männer« bezeichnet wurden – nur nicht, oder nur hin und wieder, als das, was sie auch waren oder wozu sie von den Nazis gemacht wurden: Juden.
Tatsächlich lassen sich die Leerstellen in den Kommentarspalten, die Butterweck penibel dokumentiert, mit der Übernahme der Stalinschen Doktrin erklären, die Leiden der jüdischen Bevölkerung genauso wenig hervorzuheben wie die jeder anderen Volksgruppe oder Nationalität der UdSSR. Der Historiker Jochen Hellbeck hat die Hintergründe dieser politischen Leitlinie in seinem detailreichen Werk über den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, »Ein Krieg wie kein anderer« (2024, dt. 2025), dargestellt. Wer es liest, kommt nicht umhin, Butterweck die gleiche Einäugigkeit vorzuwerfen, deren er die Verfasser der Artikel in den schon genannten Zeitungen bezichtigt: Während er der herkömmlichen, bei fast allen offiziellen Gedenkveranstaltungen üblichen Einschränkung der NS-Verbrechen auf die Schoa folgt, betont Hellbeck unter Verweis auf unzählige Dokumente, »dass die sowjetische kommunistische Ordnung das zentrale Ziel Nazi-Deutschlands war und dass der Holocaust den Höhepunkt einer Politik bildete, die Kommunisten als Untermenschen verfolgte«. Er erinnert daran, dass infolge der Invasion und Besetzung zwischen 26 und 27 Millionen Sowjetbürger, davon 15 Millionen Zivilisten und unter diesen 2,6 Millionen Juden, ums Leben kamen. Über die Proportionen dieser horrenden Zahlen verliert Butterweck kein Wort. Er kritisiert das Missverhältnis von Österreich-Patriotismus sowie Sowjethuldigung auf der einen und Berichterstattung über jüdisches Leid auf der anderen Seite, verzichtet aber darauf, auch die Kontinuität des von den Nazis betriebenen mörderischen Antikommunismus mit der politischen Misere der Gegenwart in Verbindung zu bringen. Dabei müsste er aufgrund seines Alters – Butterweck ist Jahrgang 1927, geht also rüstig auf die 100 zu – aus eigener Erfahrung wissen, dass mit Ausbruch des Kalten Krieges und spätestens nach Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen in Österreich nicht der Holocaust, sondern der antifaschistische Widerstand verheimlicht wurde. Darin, sowie im langen Schweigen über die Verfolgung und Ausrottung der Roma, liegt das große Versäumnis der Zweiten Republik.
Anfechtbar ist auch Butterwecks Entscheidung, sich zur Beglaubigung der eigenen These auf die Leitartikel der Zeitungen zu konzentrieren. Er begründet dies mit dem Hinweis auf das Bedürfnis der Leserinnen und Leser nach »Meinungselementen«, an die sie sich halten konnten. Gleichzeitig widerspricht er sich, indem er das Ausbleiben eines »heilsamen Schocks« über die Untaten der Nazis beklagt. So ein Schock, der seiner Überzeugung nach über mehrere Generationen angehalten hätte und noch heute Jugendliche gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus immunisieren würde, wäre aber nicht durch Kommentare zustande gekommen, die Fakten interpretieren, sondern durch Reportagen und Augenzeugenberichte über die Nazigreuel, und an solchen hat es weder der Österreichischen Zeitung noch dem Neuen Österreich gemangelt. Butterweck erwähnt selber Berichte der Auschwitz-Überlebenden Franz Danimann, Heinrich Dürmayer und Ludwig Soswinski über die Massenmorde in Birkenau, verschweigt aber, dass das Neue Österreich schon in seiner ersten Ausgabe, am 23. April 1945, die jüdischen Frauen und Männer würdigte, die zwölf Tage zuvor in der Leopoldstädter Förstergasse von einer Einheit der SS entdeckt und ermordet worden waren, und am 5. Mai einen Bericht der Schriftstellerin und Bibliothekarin Doris Brehm über untergetauchte Jüdinnen und deren Schicksale veröffentlichte.

Überhaupt brachte das Neue Österreich Tag für Tag weitere Glossen oder Reportagen, die sich dem Thema widmeten, dessen Abwesenheit Butterweck wortreich beklagt: eine über die Unzulänglichkeit des österreichischen Widerstands gegen die Naziherrschaft, eine zweite über die Lüge, nicht mitgemacht zu haben (»Kinder freut’s euch! Niemand in Wien ist ein Nazi gewesen. Niemand hat Geschäfte arisiert, niemand hat die Judenwohnungen ausgeplündert …«), eine über »ein Musterbeispiel zynischer Enteignung«, die Art und Weise nämlich, wie der Ariseur Robert Pühringer das legendäre Café Dobner in seinen Besitz gebracht hatte. Außerdem mehrere Erlebnisberichte ehemaliger Häftlinge des KZ Buchenwald, unter anderem über die Ermordung der Wiener Juden Edmund und Philipp Hamber sowie über Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi, die das Buchenwaldlied getextet und komponiert hatten. In der Ausgabe vom 1. Mai wurde »an einen jüdischen Wohltäter« erinnert, den Arzt Eduard Bloch nämlich, der den kleinen Hitler und Hitlers Eltern behandelt hatte, und drei Tage später kam in der Zeitung mit dem ehemaligen KZ-Häftling Josef Gerö der Staatssekretär für Justiz in der demokratischen Übergangsregierung zu Wort, der die Rückerstattung arisierter Vermögenswerte als dringliche Aufgabe seines Ressorts ansah: »So viel Unrecht, so viel Arbeit für Kommissionen und Gerichte!«
Ich könnte mit der Aufzählung beliebig fortfahren. Eine Reportage vom 17. Mai über das Grauen von Majdanek erwähnt auch Butterweck; sie war offenbar die gekürzte Fassung einer Artikelserie, die der Schriftsteller Konstantin Simonow im August 1944 in der sowjetischen Militärzeitung Krasnaja Swesda veröffentlicht hatte. Auch sie hätte, trotz der von Butterweck beanstandeten Marginalisierung jüdischen Schicksals, dazu beitragen können, unter den Leserinnen und Lesern die von ihm vermisste Katharsis auszulösen. Aber Butterweck geht in seiner Verdammung dessen, was im befreiten Wien über die Nazizeit zu erfahren war, noch einen Schritt weiter; er bedauert, dass das Material der ersten Filme über die deutschen Vernichtungslager aus Sowjetbeständen stammte, ja sogar, dass die Lager im Osten lagen und deshalb von der Roten Armee und nicht von den Westalliierten befreit wurden, die von den Hauptfeinden des Naziregimes, Juden und Kommunisten, nur die einen gelten ließen und die anderen aus dem öffentlichen Gedächtnis zu verdrängen suchten. Kurios ist in diesem Zusammenhang Butterwecks Glaube, dass die Schrecken der Naziherrschaft in den westlichen Zonen früher und eindringlicher dargestellt wurden als im sowjetischen Einflussbereich. Aber die Gedenkstätte Auschwitz wurde 1947 eröffnet, Mauthausen 1949, Ravensbrück und Buchenwald nach langen Vorarbeiten, die bis 1950 zurückreichten, im Jahr 1959, Dachau dagegen erst 1965 – nachdem Überlebende, wie Hellbeck schreibt, »jahrelang Lobbyarbeit geleistet hatten«.
Geradezu grotesk fällt Butterwecks vergleichendes Urteil über die Aufarbeitung der Nazizeit in Österreich und dem unglücklich vereinten Deutschland aus: Während hierzulande wie in den ostdeutschen Bundesländern Antisemitismus und Rechtsextremismus weit verbreitet seien, weil da wie dort »nichts stattgefunden hatte, das mit dem nachträglichen Erschrecken über die verdrängten Untaten des Dritten Reiches vergleichbar ist«, habe in der BRD ein durch Information untermauerter, in den Medien großen Raum einnehmender Diskurs über den deutschen Faschismus, sein Wesen und seine Verbrechen stattgefunden, der einen großen Teil der Bevölkerung erreicht habe. Diese plumpe Sichtweise, der man eine Mischung aus unterwürfiger Deutschtümelei und primitivem Antikommunismus unterstellen möchte, versperrt sich in ihrer Naivität jeglichem Argument. Das KPD-Verbot, die Repressalien gegenüber der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die tödliche Hetzjagd auf Philipp Auerbach, die Karrieren der Parteigenossen Globke, Gehlen, Hallervorden, Oberländer, Kiesinger oder Filbinger, der Radikalenerlass, die Staatsdoktrin von den zwei deutschen Diktaturen, die die Naziverbrechen relativiert, jüngst das Verbot, am 80. Jahrestag der Befreiung vom Naziregime die Fahne der Befreier zu zeigen – nichts davon ficht Butterweck an, der in seiner Verzweiflung über den österreichischen Weg in den Abgrund die falschen Schuldigen entdeckt und die falsche Alternative aufgezeigt hat.
Hellmut Butterweck: Der Ungeist der Stunde Null. Wie Österreich säte, was es heute hat. Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2025, 181 Seiten, 24 Euro
Erich Hackl wurde 1954 in Steyr (Oberösterreich) geboren. Er arbeitet seit 1983 als Übersetzer, Herausgeber und freier Schriftsteller. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle am 2. November 2024 über einen Totenbesuch auf dem Friedhof von Buñol
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