»Simulation auf Kosten der Grundrechte«
Interview: Kristian Stemmler
Die Berliner Regierungskoalition von CDU und SPD hat sich auf eine Novelle des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes, kurz ASOG, geeinigt, die erhebliche Verschärfungen mit sich bringt. Haben Sie das so erwartet?
Damit war zu rechnen. Im Koalitionsvertrag standen bereits diverse Punkte dazu. Was jetzt beschlossen wurde, geht aber noch darüber hinaus. Der Senat hat offenbar jedes Maß beim Schutz der Grundrechte verloren. Von Innensenatorin Iris Spranger und ihrer SPD war kein Widerstand zu erwarten. »Schwarz-Rot« setzt jetzt um, was wir in der vergangenen Wahlperiode in der Regierung noch verhindern konnten.
An sieben »kriminalitätsbelasteten Orten«, etwa Kottbusser Tor und Görlitzer Park, soll eine dauerhafte Videoüberwachung eingeführt werden. Dabei soll auch künstliche Intelligenz eingesetzt werden. Wie bewerten Sie das?
Mit KI-gestützter Videoüberwachung, Verkehrsdaten- und Funkzellenabfragen gibt es bald wohl kaum noch jemanden, der nicht von staatlichen Überwachungsmaßnahmen im öffentlichen Raum betroffen ist. Die Wirkung von Videoüberwachung ist dabei zweifelhaft. Die Studienlage gibt nicht her, dass das große Auswirkungen hat – weder auf das Ausmaß der Kriminalität an den überwachten Orten noch auf die Aufklärung.
Die KI soll dafür eingesetzt werden, »verdächtige Verhaltensmuster« zu erkennen.
Es weiß doch niemand, wie diese Algorithmen funktionieren und welches Verhalten dazu führt, dass die Polizei anrückt. Der Effekt solcher Überwachung ist jedenfalls, dass die Menschen sich möglichst unauffällig und massenkonform verhalten. Das nennt man in der Soziologie »Chilling Effect«: Keiner traut sich mehr, aus der Reihe zu tanzen.
Eine brisante Verschärfung des Polizeigesetzes ist auch die Quellentelekommunikationsüberwachung. Wo liegt da das Problem?
Es ist eine Technik, bei der eine Spionagesoftware heimlich auf einem Endgerät installiert wird. Die Daten werden direkt auf dem Gerät abgegriffen, bevor sie verschlüsselt werden. Das zielt besonders auf verschlüsselte Chats, etwa bei Whats-App oder Signal. Die Behörden haben de facto Zugriff auf alles, was auf einem solchen Gerät gespeichert ist. Wer ein Smartphone hat, weiß: Da sind die intimsten Informationen drauf.
Ein zweiter großer Kritikpunkt: Um so einen Trojaner zu installieren, muss man Sicherheitslücken im Betriebssystem ausnutzen. Das heißt, der Staat muss entweder selbst solche Lücken identifizieren, oder er muss sie sich auf dem Schwarzmarkt besorgen. Der Staat trägt so zur IT-Unsicherheit bei, statt die Lücken zu schließen. Und es nutzen ja alle diese Betriebssysteme, auch staatliche Einrichtungen. Auch diese werden angreifbarer.
Es heißt, derlei werde nur gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus eingesetzt. Kann man dem trauen?
Wir kennen noch nicht den konkreten Gesetzestext. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Nutzung von vielen dieser Instrumente, bei denen anfangs gesagt wurde, man mache das für die Terrorismusbekämpfung oder nur bei schwersten Straftaten, Schritt für Schritt ausgeweitet wurde. Letztlich werden sie auch gegen Alltagskriminalität angewendet.
Geplant ist auch, dass der sogenannte finale Rettungsschuss rechtlich abgesichert werden soll. Was halten Sie davon?
Die Polizei macht jetzt schon zu oft Gebrauch von der Schusswaffe, oft bei Einsätzen mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Wenn man jetzt auch noch den »finalen Rettungsschuss« gesetzlich regelt, droht die Hemmschwelle noch weiter zu sinken. Wir fordern, dass sich die Polizei bei derartigen Einsätzen zurückhält und professionelle Teams versuchen, das ohne die Polizei zu lösen.
Der Berliner Senat setzt offenbar auf eine harte Linie.
Die geplanten Verschärfungen zeigen die grundsätzliche Ausrichtung der Innenpolitik bei CDU und SPD. Projekte von Gewaltprävention, Jugendhilfe, Suchtarbeit und ähnliches werden flächendeckend zusammengekürzt. Zugleich setzten sie auf Repression und Überwachung, weil sie glauben, dass man gesellschaftliche Probleme damit lösen könne. Das ist Simulation von Sicherheit auf Kosten der Grundrechte.
Niklas Schrader ist parlamentarischer Geschäftsführer und Sprecher für Innenpolitik
der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus
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