Mörderisches System
Von Ina SembdnerSie nehmen alle Gefahren in Kauf, um ein klein wenig Essen für sich und ihre Familien zu ergattern. Doch die sogenannten Verteilzentren im Gazastreifen unter US-Kontrolle im Auftrag Israels sind seit mehr als einem Monat faktisch Todeszonen mit Hunderten Getöteten und zahlreichen Verletzten. Die Zustände sind so unerträglich, dass sich selbst im Inneren dieses Kontrollmechanismus Widerstand regt. Zwei der darin angestellten haben nun umfassend Zeugnis ihrer Tätigkeit gegeben und der US-Agentur AP Fotos sowie Videoaufnahmen des täglichen Horrors zur Verfügung gestellt. »Wenn die Einsätze so weitergehen, werden weiterhin unschuldige Hilfesuchende unnötig verletzt«, so einer der anonymen Hinweisgeber. »Und möglicherweise getötet.« Er ist einer von Hunderten Auftragnehmern für den US-Konzern UG Solutions, der als Subunternehmen Sicherheitspersonal für die Verteilstellen anheuert. Kugeln, Betäubungsgranaten und Pfefferspray seien bei fast jeder Verteilung eingesetzt worden, auch wenn keine Bedrohung vorgelegen habe.
Die zur Verfügung gestellten Aufnahmen von vor Ort zeigen Hunderte von Palästinensern, »die sich unter dem Lärm von Kugeln und Betäubungsgranaten zwischen Metalltoren drängen, um Hilfe zu erhalten«, beschreibt AP die Szenerie. Andere Videos, die Anfang Mai entstanden sind, als die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) nach mehreren Monaten kompletter Blockade der palästinensischen Enklave, ihre »humanitäre« Arbeit aufgenommen hatte, dokumentieren Aussagen schwer bewaffneter US-»Sicherheitskräfte«, wie sie die Menge auseinandertreiben können: Einer gibt an, er habe eine »Machtdemonstration« durch israelische Panzer organisiert, aber er »möchte nicht, dass es zu aggressiv wird«. Nachdem in der Nähe mindestens 15 Schüsse zu hören sind, ruft einer: »Juhu! Juhu! Ich glaube, sie haben einen getroffen.« AP konnte die ihm zugespielten Aufnahmen mittels Audioforensik und Geolokation verifizieren. Bei einer einzigen Verteilung im Juni hätten die Auftragnehmer 37 Blendgranaten, 27 Gummi- und Rauchgeschosse und 60 Dosen Pfefferspray eingesetzt, wie aus internen Textmitteilungen hervorgeht, die der Agentur vorliegen. Darin nicht enthalten: die Zahl der scharfen Munition, wie einer der Auftragnehmer hinzufügte. Die Palästinenser seien gefangen zwischen israelischem und US-Feuer.
Flankiert wurde diese Recherche am Donnerstag von einem Bericht von Amnesty International: Israel habe die Suche nach Hilfsgütern für verzweifelte, ausgehungerte Palästinenser durch die militarisierten GHF-Zentren »zu einer Sprengfalle gemacht«. Die Bedingungen hätten zu einer »tödlichen Mischung aus Hunger und Krankheit geführt, die die Bevölkerung bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit treibt«. Das prangerte gleichentags auch zum wiederholten Male die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese an. Vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf präsentierte sie ihren jüngsten Bericht zu den besetzten palästinensischen Gebieten und erklärte: »Israel ist für einen der grausamsten Völkermorde in der modernen Geschichte verantwortlich.« Die Situation sei apokalyptisch. Allein am Donnerstag wurden mindestens 118 getötete Palästinenser in 24 Stunden gemeldet. Benannt werden in dem UN-Bericht mehr als 60 Konzerne, die diesen Krieg Israels ermöglichen. »Was ich aufdecke, ist keine Liste, es ist ein System, und das muss angegangen werden«, so Albanese. Sie forderte ein vollständiges Waffenembargo und die Aussetzung aller Handelsabkommen.
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