Von Aufbruch keine Spur
Von Kristian Stemmler
Von Aufbruchsstimmung oder nennenswerten Kurskorrekturen konnte beim Parteitag der SPD in Berlin am Wochenende keine Rede sein. Das war von einer Partei, die sich einer Koalition mit der Union verschrieben hat, auch nicht wirklich zu erwarten. So zogen personelle Fragen um so mehr Aufmerksamkeit auf sich, vor allem das desaströse Wahlergebnis des Kovorsitzenden Lars Klingbeil. Der Vizekanzler und Bundesfinanzminister wurde am Sonnabend zwar wiedergewählt, erhielt von den rund 600 Delegierten aber nur knapp 65 Prozent Zustimmung – so schlecht hatte noch kein SPD-Chef abgeschnitten, der ohne Gegenkandidaten antrat.
Was die Sache noch schlimmer machte: Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, die für die Nachfolge von Saskia Esken als Kovorsitzende kandidierte, kam auf hervorragende 95 Prozent. Von den Medien wurde Klingbeils Ergebnis wahlweise als »Klatsche« oder »Ohrfeige« gedeutet. Dem Niedersachsen sei offenbar übelgenommen worden, dass er sich auf allen wichtigen Posten mit Vertrauten umgeben hat, und auch die Demontage von Esken habe man ihm angekreidet. Auf dem Parteitag gab es immer wieder demonstrativ Applaus für jene, die in Klingbeils Machtkarussell leer ausgingen: neben Esken auch Exarbeitsminister Hubertus Heil.
Gefeiert wurde auch Bas, die als »Parteilinke« eingeordnet wird. Die Basis erwartet von der Duisburgerin, die seit der technischen Berufsfachschule auch schweißen kann, offenbar eine Wiederbelebung des Rufs als Arbeiterpartei. Kurz vor dem Parteitag legte sie einen milliardenschweren Gesetzentwurf für das SPD-Herzensthema »sichere Renten« vor. Die Delegierten begeisterte Bas mit der Bemerkung, Frauen seien in der Politik »noch zusätzlich diesem sexistischen Müll ausgesetzt«. Für »Alibiparität« sei sie nicht zu haben, erklärte sie.
Inhaltliche Kontroversen waren auf dem Parteitag eher Mangelware. Ein offener Streit zwischen Verteidigungsminister Boris Pistorius und Juso-Chef Philipp Türmer in der Debatte um die Wehrpflicht wurde dpa zufolge durch stundenlange Krisengespräche hinter den Kulissen verhindert. Der Minister wollte in seinem Wehrdienstgesetz bereits Regelungen einbauen, die bei einem Mangel an Freiwilligen greifen würden.
Der Parteitag einigte sich mit wenigen Gegenstimmen darauf, die Entscheidung zwischen einer Wehrpflicht und einem freiwilligen Dienst so lange wie möglich hinauszuschieben. Im mehrheitlich verabschiedeten Kompromiss heißt es, dass die Partei sich zu einem »neuen Wehrdienst« nach dem sogenannten schwedischen Modell bekenne, wie es auch im Koalitionsvertrag mit CDU/CSU verabredet ist. »Wir wollen keine aktivierbare gesetzliche Möglichkeit zur Heranziehung Wehrpflichtiger, bevor nicht alle Maßnahmen zur freiwilligen Steigerung ausgeschöpft sind«, heißt es im beschlossenen Text.
Immerhin 35 Prozent der Delegierten stimmten für einen Antrag, der den Parteitag aufforderte, eine »dauerhafte und starre Festlegung der Rüstungsausgaben auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts« abzulehnen. Erst nach einer »gesellschaftlichen Debatte, welche Ausgaben nötig und sinnvoll sind«, könne man sagen, wie hoch die »Verteidigungsausgaben« sein sollten. Zwar lehnte eine Mehrheit von 62 Prozent den Antrag ab, aber der Koautor des SPD-»Friedensmanifests«, Arno Gottschalk, nannte bei X »den Widerstand« dennoch »eindrucksvoll und ermutigend«.
Einig waren sich die Delegierten beim Thema AfD. Der Parteitag votierte am Sonntag einstimmig für einen Antrag des Parteivorstands, der sich für die Vorbereitung für ein AfD-Verbotsverfahren ausspricht. Zur Sammlung von Belegen für die Verfassungswidrigkeit der Partei solle eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt werden, heißt es im Antrag. Bei ausreichenden Belegen will die SPD dann auf einen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht dringen. Thüringens Innenminister Georg Maier erklärte laut dpa zur Begründung, die AfD sei eine völkische, menschenverachtende Partei, deren Ziel es sei, »unsere Demokratie zu beseitigen«. Es sei deshalb an der Zeit, die Möglichkeit eines Parteiverbotsverfahrens im Grundgesetz zu nutzen.
Zustimmung gab es auch für seichte Kritik an der israelischen Regierung und deren Kriegführung. Mit großer Mehrheit folgten die Delegierten dem Antrag des Parteivorstands, der Israel zur Einhaltung des Völkerrechts aufruft und »diplomatische Anstrengungen« fordert, »um die fragile Waffenruhe zwischen Israel und Iran zu erhalten«.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (30. Juni 2025 um 15:05 Uhr)Es ist verblüffend: Vor 111 Jahren wurde mit Zustimmung der Führenden/Mächtigen in der Spitze der Arbeiterpartei SPD der Weltkrieg Nummer eins (nach zentraleuropäischer Zählung) begonnen. Schwer zu glauben, dass diese katastrophale Entscheidung in Vergessenheit geraten ist. - Übrigens: Der Slogan der Liebknechtschaft galt Wilhelm (»Wissen ist Macht!«, 1872, Dresdner Rede) Liebknecht, nicht Karl, dem Mitbegründer der KPD. - Ein Nachsatz: Die Legende vom Vizekanzler entzaubert sich natürlich durch: Mal wieder das Grundgesetz lesen! Wer hat es also nicht getan, aber redet von dieser Funktion? Schneller geht's philosophisch: vom Mythos zum Logos. Wie könnte er denn heißen: Bundesvizekanzler oder Vizebundeskanzler? Warten wir ab, wie der Wertewesten und die Weltöffentlichkeit entscheiden! Falls es nicht vollkommen schnuppe ist, wer sich wie und warum entpuppt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in AStA U. aus Hamburg (30. Juni 2025 um 11:02 Uhr)Richtig, ein Aufbruch ist das nicht. Aber man kann erkennen, dass sich in der SPD kräftig gestritten wird: über die Notwendigkeit einer sozialpolitischen und asylpolitischen Gegnerschaft zur Union, über die NATO-Devotion, die »Staatsräson« oder einen Stopp der Waffenlieferungen an Israel und über die innerparteiliche Demokratie. Vor Ort, beim Parteitag, war gut erkennbar, dass die 35 Prozent gegen das NATO-Fünfprozentziel – in einer zweiten, ausgezählten Abstimmung – im Einklang mit innerparteilichen Protestaktionen unter dem Motto »Abrüsten – Irgendwann ist jetzt« erkämpft sind und weitere Auseinandersetzungen folgen werden. Und Lars Klingbeil hat selbst sehr deutlich gemacht, dass er sein schlechtes Ergebnis als Quittung für seine Position der unbedingten »Unterstützung« der Ukraine durch Waffenlieferungen versteht. In der SPD werden gesellschaftliche Debatten ausgefochten. Dies geschieht gegen einen immensen Druck der Parteileitung, die dies mit der üblichen Denunziation (Nestbeschmutzer, Spalter, Vaterlandverräter …) und vielen Tricks unterbinden will. Es wäre bündnispolitisch sinnvoll für die gesellschaftliche Linke und die Friedensbewegung, dies sensibel wahrzunehmen und die Kritik darauf zu richten, dass die Courage wächst und nicht der Frust. Golnar Sepehrnia
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (30. Juni 2025 um 13:33 Uhr)Danke für diese kluge Wertung! Anknüpfungspunkte für mögliche Bündnisse zu suchen und zu finden - das war und ist unter den Linken in Deutschland unüblich geworden. Anderen mit erhobenem Zeigefinger in der Nase zu bohren da schon eher. Dass man Prinzipien haben muss, weiß jeder der Akteure. Dass man aber flexibel sein muss, um sie durchsetzen zu können, eher nicht. Genau deshalb ist es auch so einfach, uns zu spalten. Wir suchen immer zuerst das Trennende und vergessen darüber, nach dem Verbindenden Ausschau zu halten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Kurt W F. aus Tuxtla Gutiérrez, Chiapas, Mexiko (29. Juni 2025 um 21:03 Uhr)Ich habe den SPD-Parteitag nicht verfolgt, aber es könnte es sein, dass die SPD wieder gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen hat? Frei nach Dietrich Kittner: Links geblinkt, rechts abgebogen?
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