Gegründet 1947 Montag, 30. Juni 2025, Nr. 148
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Aus: Ausgabe vom 28.06.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Soviel wir tragen können

Die Kajal-Clique kehrt zurück
Von Stefan Wimmer
Kajal-Clique(1).jpg

Dieser Tage erscheint »Die weiße Hölle vom Fuxnhof« im Blond-Verlag, Stefan Wimmers dritter Roman über die »Kajal-Clique« und die Hölle einer süddeutschen Vorstadtjugend der 1980er Jahre. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. (jW)

»Dass einer Herr ist, dulden wir nimmermehr«

Alkaios

»Wir müssen mörderisch saufen, um hier nicht

an Langeweile zu sterben«

Horaz

Böswillige Zungen behaupten, die Kajal-Clique sei nur im Sommer aktiv gewesen, zu einer Zeit, als die Sonne auf den Münchner Westen brannte und die Glutwinde über den Waldschwaigsee zogen. Doch keine Behauptung könnte falscher sein. Auch im tiefsten Winter, zwischen Blizzards, Triebschnee und Lawinenkegeln, herrschte die Kajal-Clique. Und sie herrschte mit majestätischer Pracht. Daran kann kein Zweifel sein. Doch dies war nicht immer so gewesen, denn die winterlichen Ruhmestaten der Kajal-Clique begannen erst im Januar 1986, unter schwierigsten Vorzeichen.

Es war nämlich das erste Mal für uns, die Klasse 11 c, dass wir ins Skilager fahren sollten (die beiden Jahre zuvor waren die Skilager wegen diverser Verwicklungen ausgefallen), und auch die Planungen für 1986 gestalteten sich höchst kompliziert. Anfang Januar nämlich teilte das Direktorat des Karlsgymnasiums den Schülern mit, dass fürs kommende Skilager nicht Herr Zantner als begleitender Lehrer vorgesehen sei, sondern – völlig überraschenderweise – Dr. Bärbichler, unser Griechisch- und Lateinlehrer. Bärbichler selbst bekräftigte dies alsbald zwei Tage später, als er, mit seinem struppigen Rauschebart und den zornigen Augenbrauen einem überdimensionalen Waldschrat ähnelnd, vor die Klasse trat und in seiner üblichen grantigen Art verkündete:

»Wie ihr vielleicht scho’ g’hört hobts, bin i des’ Jahr euer Bezugspunkt im Skilager!« Bärbichler machte eine Pause und sah witternd mit seinem gezwirbelten Bart in die Klasse. »Deswegen hier kurz a Lagebericht! I hob heut morgen mit’m ›Fuxnhof‹ telefoniert, und die Wirtin hod mer mit’teilt, dass’ ’s im Augenblick dreizehn Grad minus hod im hinteren Tal! Warme Kleidung is oiso a Pflichtsach’! Da steht jeder in der Verantwortung! Da heißt’s Augen offenhalten! Doch des is no’ ned ois!«

Bärbichler vollführte eine schwungvolle Halbdrehung in seinem rustikalen Heidegger-Anzug, dann fuchtelte er mit dem Kreidestift in der Luft herum:

»I hob mi’ abg’sprochen mit’m Lehrerkolleg«, fuhr er fort, »und wir san zum Entschluss ’kommen, dass wegen der speziellen Temperaturen a ganz B’SONDERE Maßnahme greifen muss: nämlich a absolutes Alkoholverbot, bis auf’n ›bunten Abend‹ vielleicht! Bei dreizehn Grad minus hat der Alkohol a verheerende Wirkung! Ma’ überschätzt si’! Ma’ kühlt aus! Ma’ begibt si’ in Gefahr! Wobei des, wos i jetzt grad g’sogt hob, aa’ ganz speziell an die hintere Reihe gerichtet is! Und i sag’s nur oamoi: generelles Alkoholverbot, bis auf’n ›bunten Abend‹ vielleicht! Des is a Angebot! Und wenn des ned ang’nommen wird, is des Angebot verwirkt!«

»Die hintere Reihe« – das waren wir, die Kajal-Clique: Roderick Thorwald, unser Boss mit dem pfiffigen Bärenschädel, den verschmitzt glimmenden Waldtieraugen und den breiten Knochenwülsten über den Brauen, die ihn wie eine Dämonenmaske aussehen ließen … Michi Meindorff, der schlaksige Spund mit der Stachelfrisur, den ausrasierten Geheimratsecken und dem schönen, charismatischen Gesicht, der ein wenig Sting in »Der Wüstenplanet« ähnelte … Sowie meine Wenigkeit, Stefan Wimmer, Ihr ergebenster Diener, immer mit wasserstoffblond gefärbten Zotteln und schwarzer Kutte angetan. Zu dritt bildeten wir die Kajal-Clique, die respektierteste, berüchtigtste New-Wave-Clique des Münchner Westens. Und dann gab es da noch einen Mann namens Deibel, der einen Stuhl neben uns saß und die ganze Zeit behauptete, der Kajal-Clique anzugehören, der aber – dies kann ich als verlässlicher Schreiber bestätigen – mit seinem Wurstantlitz und den erloschenen Augen lediglich der Hofnarr der Clique war.

Als Bärbichler seine Rede zum Thema »Alkohol im Skilager« beendet hatte, durchzuckten uns, die drei Vollmitglieder der Kajal-Clique, bereits zu diesem Zeitpunkt schwerste Entzugserscheinungen (Muskelspasmen, Lidflattern etc.), die uns fast vom Stuhl fallen ließen. Denn auf Alkohol war all unser Tun gebaut. Auf Alkohol fußten all unsere Hoffnungen. Wir waren uns nämlich sicher, dass das Skilager, besonders unter der Knute Bärbichlers, nichts anderes sein würde als ein perverser Gulag: kräftezehrend, erniedrigend, auslaugend, eine Strafanstalt schlimmsten Zuschnitts. Da wir, die Kajal-Clique, mit Sport zudem nichts am Hut hatten und außer Roderick noch nicht einmal richtig Ski fahren konnten, verlockte uns auch die Aussicht auf alpine Abenteuer nicht, an dieser Institution teilzunehmen.

Gedanklich konnten wir uns das Skilager daher nur unter einem Vorzeichen vorstellen: Dass wir ihm unser eigenes Konzept überstülpten … Dass wir dem Skilager den Stempel des »PPP« aufdrückten – »Partys, Petting, Punkmusik« (= Zitat unserer Englischlehrerin Frau Endress) … Dass wir wie Hannibals Elefanten das »PPP« auf unserem Rücken in das österreichische Tal trügen, in dem wir logieren würden. Denn dies war der Plan: Die Schneelandschaften mit düsteren Sounds à la The Cure und The Human League zu beschallen, Unmengen an landestypischen Spirituosen zu vertilgen, geheime Partys zu feiern, und das alles nur, um dem anderen Geschlecht näherzukommen und das »PPP« zum Sieg zu führen, die »drei schlimmsten Gefahren für einen Heranwachsenden« (abermals Frau Endress).

In puncto Aussicht auf sexuelle Beziehungen hatten sich nämlich in diesem Schuljahr durchaus einige Sensationen ergeben: Es waren im September mehrere wahrhaft phantastische Mädchen an unsere Schule gekommen. Rundheraus gesagt, handelte es sich um drei, die sofort Pep ins Karlsgymnasium gebracht hatten wie ein Bund Chili: Da war die extrem kleingewachsene Astrid Bonfique, die mit ihrer Stupsnase, der Kinderstirn und dem kornblonden Pferdeschwanz wie ein Kind aussah, aber gleichzeitig etwas extrem Frühreifes, Wissendes besaß. Als Meindorff Astrid zum ersten Mal im Pausenhof sah und wir ihm ihren Namen genannt hatten, stammelte er entgeistert:

»Ich kann’s nicht glauben … Astrid Bon-fique … Boah, ich sag’ nur: In hoc signo vinces!«

Und Astrid war in der Tat der Knüller, wobei sie jetzt im Winter mit ihren Anoraks, der Bommelmütze und dem edlen Lächeln noch unwiderstehlicher aussah. Vor kurzem hatten wir sie zufällig durch die Glasfront des Musikzimmers beobachtet, wie sie im Schulchor Weihnachtslieder sang, und als sie mit Karorock die Zeilen intonierte: »Zottelbär und Panthertier, / Möcht’ ich gerne haben …«, da war es um uns geschehen. Und wir waren nicht allein: Astrid Bonfique hatte am gesamten Karlsgymnasium einen tiefen Eindruck hinterlassen. Seit Wochen hörte man in den Fluren nur immer die männlichen Jugendlichen miteinander flüstern: »Astrid Bonfique … Astrid Bonfique …«

Doch die geheimnisvolle Astrid war beileibe noch nicht alles, was die Schule zu bieten hatte. Denn das Leben hatte noch einen draufgesetzt: In Form von Eva Cosmo, die ebenfalls ans Karlsgymnasium gewechselt war. Eva Cosmo, eine ganz nach meinem Geschmack! Eine, bei der der Schöpfer die Gussform weggeworfen hatte, nachdem er sie gegossen hatte. Eva Cosmo sah ziemlich rasant und punk-gestylt aus, hatte pechschwarze Locken, die mit einrasierten Stellen verziert waren, und trug eine italienische Gräfinnenbrille à la Anouk Aimée in »La dolce vita«. Evas Gesicht: total durchtrieben, mit scharfer Nase und einer Zahnspalte zwischen ihren Schneidezähnen, durch die sie immer die Zungenspitze steckte. Eva rauchte Drehtabak, war rebellisch und nahm, so munkelte man, schon die Pille. In der Schule (dies trugen mir meine Spione aus der 11 a zu) tat sie wenig und kam regelmäßig zu spät, wobei sie immer lächelnd den Satz flötete: »Hab’ ’ne Entschuldigung!«

Und dann war da noch Suse Söll, »das Mädchen aus dem Omegaflügel«, wie wir sie immer nannten. Suse Söll kam aus einem reichen Elternhaus, trug stets blitzblanke, teure Markenklamotten, in denen sie aussah wie ein Geschenkpäckchen, mit aufspringenden Spitzkrägen, Haarspangen und Schmucknadeln: The All-American Girl. Suse hatte die Angewohnheit, die ganze Zeit ekstatisch in Lachen auszubrechen und dabei verrückt in die Hände zu klatschen, so dass es uns bisweilen so vorkam, als ob sie nicht ganz richtig unterm Hut sei. Von Paganini hatte es geheißen, dass es in seiner Gegenwart immer ein wenig nach Schwefel gerochen habe, und mit gleichem Recht konnte man behaupten, dass es in Suses Nähe immer ein bisschen nach verschmorten Kabeln roch. Aber dennoch war sie verdammt scharf mit ihren blitzenden Augen, dem aufgekratzten Lachen und den weißen Zähnen. Suse war Rodericks Favoritin, während ich Astrid und Eva den Vorzug gab, Meindorff jedoch war ausschließlich auf Astrid fixiert. Und Deibel war – glaube ich – schon erregt, wenn er nur die Biolehrerin Frau Denker durch den Gang kommen sah, die einem Panzer im Glockenrock ähnelte.

Astrid, Eva und Suse hatten sich interessanterweise miteinander angefreundet und standen immer zusammen im Pausenhof. Da sie für den Kreis von Ökoschreckschrauben, die an unserer Schule den Ton angaben (die Weibermafia rund um Urania Muschiol, Anne Römer und Philomena Sass) viel zu rebellisch waren, wurden sie von diesen eher gemieden. Denn Urania, Anne und Philomena spürten, dass die drei etwas besaßen, das ihnen fehlte: Aufmüpfigkeit und Charme.

Doch nun kam das Problem: All diese interessanten Neuzugänge waren in ihrer Gänze nicht bei uns, der 11-c-Klasse, abgegeben worden, sondern bei der 11 a, der Konkurrenzklasse des Popperkönigs Betzenstein, unseres eingefleischten Widersachers, der eine Clique anführte, die sich selbst als »die High-Society-Clique« bezeichnete. Seit Jahren träumte ich davon, dass zu Schuljahresbeginn die Tür aufflog, der Hausmeister Elender hereinkam und eine dieser Wahnsinnsfrauen im Schlepptau mitführte, die dann sagte:

»Hi, ich bin die Astrid Bonfique, die Neue in der 11 c! Wenn ihr was von mir wissen wollt, dann fragt mich einfach!«

Oder, im Falle von Eva Cosmo:

»Na, ihr kleinen Scheißer?! Ich heiß’ Eva, wie die, die’s mit der Schlange hält! Wo steht ’n eigentlich der Kaffeeautomat? Brauch erst mal ’n Mokka. Aber ohne Zucker!«

Doch alle drei Mädchen waren der Nebenklasse zugeführt worden, um nicht zu sagen: dem Altar Betzensteins. Das heißt: Wir hatten keinen Kontakt zu ihnen, so wie wir ja zur ganzen 11-a-Klasse praktisch keinen Kontakt hatten. Deshalb konnten wir, wenn wir zu den hinteren Pavillons hinübergingen, wo die 11 a und die 11 b untergebracht waren, immer nur sehen, wie Menschen wie der Schulscharlatan Rogu Pazzupizzu oder die Sportskanone Hansi Kastenberger um die Mädels herumscharwenzelten, sich lasziv die Lockenpracht zurückwarfen und Komplimente machten wie:

»Du weißt soviel! Du sagst so interessante Dinge! Ich kenne überhaupt niemanden, der so interessante Dinge sagt wie du.«

Es verhielt sich also so, wie Bärbichler mit Parmenides gesagt hatte: »Der Gott zeigt alles von unten her und dreht es von Grund auf um.« Auf gut Deutsch: Wir waren wieder geleimt worden! Man hatte uns die Chancen wieder entrissen! Aber zumindest bestand jetzt im Skilager zum ersten Mal die Möglichkeit, mit einer der drei Königinnen in Kontakt zu kommen. Denn wenn die 11-c- und 1-1a-Klasse dieses Jahr zusammen ins Skilager fahren sollten – und Mädels wie Astrid Bonfique und Eva ­Cosmo mit dabei, im Skihäschenmodus, mit Thermohosen, Muffs und Bommelmützen –, dann ließ sich sicher das eine oder andere Abenteuer generieren. Oder, wie es in einer Serie dieser Jahre hieß: A bissel was geht immer.

So standen wir, die Kajal-Clique, jetzt also im Pausenhof, mit unseren düsteren New-Wave-Mänteln, den wild gestylten Haaren, der Schminke und der pechschwarzen Kajalbemalung, und beobachteten wie melancholische Krähen aus gut zehn Metern Entfernung möglichst beiläufig die Mädchen, die bei den Pavillons herumstanden und sich, umhüllt von einer dicken Zigarettenrauchwolke, unterhielten.

»Mann, schaut euch Astrid Bonfique an!« flüsterte Meindorff mit blutunterlaufenen Augen. »Dieser Karorock mit den Goldspangen! Diese eleganten Schaftstiefel! Die tut doch nur so, als ob sie kein Wässerchen trüben kann! Die hat’s doch in Wirklichkeit faustdick hinter den Ohren!«

»Astrid ist Oberliga, aber Eva Cosmo ist auch nicht von schlechten Eltern!« sagte ich. »Wie sie wieder dreckig lacht. Die weiß doch genau, was gespielt wird.«

»Ja?! Aber am besten … am besten finde ich Su-u-u-u-se, ja?!« sagte Roderick, nahm einen Zug von seiner »Kim« und fuhr sich mit verwirrt-fragendem Blick durch seinen Schopf. »Bei Suse Söll gilt: ›Sie ist verrückt wie ein Hutmacher.‹«

Genau in diesem Augenblick lachte die exzentrische Suse wieder auf und klatschte verzückt in die Hände, ihren Freundinnen irgendwelche extravaganten Vorschläge unterbreitend und dabei begeistert nickend.

Deibel führte seine Zigarette zum Mund, öffnete die pappigen Lippen mit einem ploppenden Geräusch und nölte:

»Die schnapp i mir alle! Die schnapp i mir, schneller als der Teufel bis drei zählen kann! Die hab i scho’ im Sack! Da habts kei’ Chonz.«

»DU?« riefen wir verblüfft.

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Deibel war schon rein optisch immer noch derselbe Loser wie vor einem Jahr, doch inzwischen hatte er aus uns unbekannten Gründen ein völlig übersteigertes Selbstbewusstsein entwickelt. Um nicht zu sagen: einen Cäsarenwahn. In den letzten Monaten war er zu einer neuen Mode übergewechselt, die sich »Grebo« nannte, und hatte sich vom allgemeinen Kleidungsstil der Kajal-Clique völlig entfernt. Er band sich jetzt Comanchen-Tücher um seine fransigen Haare und trug die alten Seidenhemden seiner Oma auf, so wie er früher die Hosen seines Bruders aufgetragen hatte, kombiniert mit klimpernden Schellengürteln und Cowboystiefeln. Die Bands, die er jetzt hörte, hießen Sigue Sigue Sputnik, Zodiac Mindwarp und The Cult (wobei er wie früher vermutlich im stillen Kämmerlein hauptsächlich Peter Maffay hörte, sich die Infos über besagte Bands jedoch aus der Spex zusammengeklaut hatte).

Jedenfalls hielt er sich inzwischen für eine Art Doppelgänger von Jeffrey Lee Pierce und hatte die Vision, dass sein abenteuerliches Äußeres schon durch reinen Blickkontakt zur psychischen Abhängigkeit seitens der Mädchen führen müsste. Als ihm Astrid von Gruithuisen einmal in der Pause eine Tüte Chips vom Elender-Stand weitergereicht hatte, faselte er die nächsten Tage, wild delirierend: »Hey, i glaub, die Astrid steht auf mi’! Aber i hab des Gefühl, sie will mi’ nur Just for Fun! Als Lusthengst! Als Bespringer! Und des könnts ihr ausrichten: I hab auch a’ SEELE! So was lass i ned mit mir machen!«

Jetzt im Pausenhof nölte er:

»Ja, die Astrid, die Eva und die Suse, die mach i klar! Da habts kei’ Chonz! Die g’hörn der Katz!«

»DU machst die klar?« entgegneten wir.

Deibel nickte wie ein Pistolero in einem schmutzigen Western.

»Logo!« nölte er. »Des kann i, weil i von den Allerbesten trainiert worden bin!1 I kenn Tricks, da kann keiner mehr mithalten.«

»Und wie willst du die Kontaktaufnahme bewerkstelligen?« fragten wir. »Eva, Astrid und Suse haben dich noch nie eines Blickes gewürdigt. Die schauen regelmäßig durch dich hindurch wie durch geklärtes Glas.«

Deibel kaute wissend auf seiner Oberlippe, dann sagte er:

»Habts schon mal was g’hört von ›Verbalerotik‹? Wissts, was des is?!« Lasziv spielte er jetzt mit dem strassbesetzten Anhänger, den er auf seiner Brust trug und den er wahrscheinlich für sehr grebohaft hielt, der aber eher an Thomas Anders’ Noraketterl erinnerte. »In Verbalerotik bin i nämlich a Könner!« schloss er.

»Und wie soll diese Verbalerotik aussehen?« fragten wir und zogen an unseren Zigaretten.

Deibel stemmte die Hand in die Hüfte, nickte abschätzig und schmachtete mit quergelegtem Kopf eine imaginäre Frau an.

»Zuerst …«, sagte er, »... musst dich so a bisserl zur Seite drehen, so als ob du’s gar nicht nötig hast. Dann lässt’ dein’ Blick langsam über ihren Körper gleiten, wie unsichtbare Fingerspitzen, und sagst: ›Heut ist die Nacht der Nächte. Heut ist jedes Experiment erlaubt. Heut willst du nur eines: mit jeder Faser deines Körpers ganz Frau sein!‹ Und am Schluss, wenn du s’ weichgekocht hast, sagst’ zu ihr: ›Und des Nobelhotel geht auf dich!‹«

»Ach komm! Hör doch auf!« riefen wir. »Eva, Astrid und Suse wissen doch noch nicht mal, wie du heißt! Die haben in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Gedanken an dich verschwendet.«

Schmunzelnd gebot Deibel uns Einhalt mit der Hand:

»Doch, doch! Die wissen scho’, woher der Wind weht! Da sin’ scho’ ganz andere schwach g’worden!«

»Ja«, sagte Meindorff, kratzte sich am Hals und nickte salomonisch. »Wenn du ihnen durch einen Sendboten ausrichten lässt: Es schreibt dir der, der auch den Namen ›Noraketterl‹ trägt! – dann können sie dich gedanklich einordnen. Dann haben sie eine Hausnummer.«

»I wett drauf! I wett drauf!« rief Deibel und spuckte in seine Handfläche. »Schlag ei’! Schlag ei’! Die Astrid werd bald wissen, wer ihr Herr und Meister is! Die Suse wird bald schmecken, was Ekstase bedeutet!«

Wir winkten genervt ab.

»Ach, komm! Träum weiter, Deibel!«

Und ich sagte:

»Das große Problem des Skilagers wird ohnehin sein, wie wir es schaffen wollen, unter Bärbichlers Nase irgendwelche Avancen voranzutreiben. Wenn ich euch ein realistisches Bild des Skilagers zeichnen darf: Bärbichler wird hinter jeder Tür, hinter jedem Söller und hinter jedem Eingang lauern. So, wie es immer war und immer sein wird! Er wird hinter jeder Arkade und jedem Pfeiler stehen. Und dann wird er die ganze Zeit reingrätschen, egal was wir planen. Wenn er uns beim Biertrinken erwischt, werden seine Schreie durch die Gänge hallen: ›Hob i ned g’sogt, dass a absolutes Alkoholverbot herrscht? Des war a Angebot! Und jetzt is des Angebot verwirkt!‹ Wenn’s um die Frage geht, auf welche Weise wir ins Mädchenzimmer gelangen, wird seine Stimme aus dem Mauerwerk heraus raunzen: ›N-a-a-a-a-a, des könnts vergessen! Wimmer, Meindorff und Thorwald! Ich bin unüberwindlich! Wennds ihr rüberwollts zu de’ Madeln, dann nur über’n Umweg durch die Hölle!‹«

»Den tricks mer aus! Den tricks mer aus!« rief Deibel. »I bin a Meister in Tarnung, i war lang bei de’ Pfadfinder!«

Doch Roderick sagte kopfschüttelnd:

»Was mich wundert, ist, dass sie überhaupt Bärbichler ins Skilager eingeteilt haben! Für mich wirkt der noch nicht mal, als ob er Ski fahren kann. Der ist doch stocksteif!«

»Unterschätz nicht das Balkangebirge«, sagte ich. »Vermutlich hat er Ski fahren in irgendeiner Felsrinne bei Gradishte Borusovu erlernt.«

Denn wir hielten Bärbichler nach wie vor für einen Bulgaren, auch wenn er immer so tat, als ob er der Bayerischste aller Bayern sei. Mit seiner braunen Haut, dem struppigen schwarzen Bart und den stets gerunzelten Augenbrauen sah er freilich eher aus wie ein bulgarischer Feudalfürst, der mit der Knute seine Leibeigenen knechtete, und wir vermuteten, dass er sich sein Bayerisch nur mittels unzähliger Sprachkurse à la »Wie gelange ich zur perfekten Nachahmung eines Bayern?« beigebracht hatte.

»Auf jeden Fall wird er besser Ski fahren als ich«, sagte Meindorff, »weil ich es überhaupt nicht kann.«

»Ich auch nicht«, sagte ich. »Ich bin auf den Brettern die totale Niete.«

Roderick war der einzige von uns, der wirklich Ski fahren konnte. Seit seiner Kindheit hatte ihn sein Anwaltsvater immer in irgendwelche berühmten Luxusskiresorts mitgenommen, die Roderick aus dem Effeff kannte.

Und Roderick sagte jetzt, als der Pausengong erklang, die S-Laute ins Endlose dehnend:

»Auf jeden Fall müssen wir eine intelligente Logi-s-s-s-s-s-s-s-s-stik anwenden, ja?! Der Tros-s-s-s-s muss ganz unter unserer Kontrolle stehen – wenn man versteht, was ich meine! Wir müssen vom ›Fuxnhof‹ völlig emanzipiert sein, ja?! Das heißt, wir müssen soviel Alkohol mitschleppen, wie wir tragen können. Aber auf keinen Fall in die Koffer packen! Die Koffer werden sie als allererstes inspizieren.«

Dann war die Pause vorbei, und wir gingen wieder zurück ins Hauptgebäude, mit unseren Plänen schon ein ganzes Stück weiter.

*

1 Deibel bezog sich hier zweifellos auf seine ständigen Referenzmänner namens Helmi, Mütze, Kutten und Enrico. Wir hatten diese ominösen Gestalten, mit denen er angeblich zur Grundschule gegangen war, zwar noch nie zu Gesicht bekommen, vermuteten aber, dass sie noch größere Rohrkrepierer waren als Deibel selbst.

Stefan Wimmer, geboren in München, ist Schriftsteller und Journalist. Er war mehrere Jahre Redakteur bei verschiedenen Lifestylemagazinen, schrieb unter anderem die Romane »Die 120 Tage von Tulúm«, »Der König von Mexiko«, »Die 12 Leidensstationen nach Pasing« und »Lost in Translatione«. Er lebt in Mexiko und München.

Stefan Wimmer: Die weiße Hölle vom Fuxnhof. Blond-Verlag, München 2025, 263 Seiten, 20 Euro

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