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Aus: Ausgabe vom 25.06.2025, Seite 12 / Thema
Geschichte Koreas

Am Anfang war der Kolonialismus

Konflikt mit langer Vorgeschichte: Weshalb der Koreakrieg nicht 1950 begann
Von Albrecht Mansfelder
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An Grausamkeit stand der japanische Faschismus dem deutschen kaum nach: Japanische Ärzte führen 1940 in der besetzten Mandschurei biologische Experimente an Gefangenen durch

In den Morgenstunden des 25. Juni 1950 überschritten nordkoreanische Truppen den 38. Breitengrad – also die Demarkationslinie, mit der die USA kurz vor der Befreiung Koreas von der japanischen Kolonialherrschaft ihren Bereich von dem sowjetischen abgegrenzt hatten. Diese Offensive gilt als Beginn des Koreakriegs. Die tatsächlichen Vorgänge sind allerdings komplizierter. Der Staatenkrieg zwischen dem nördlichen und dem südlichen Landesteil bildete nur eine Ebene des Konflikts. Eingebettet war er in die globale Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion sowie in die damit verbundenen Entwicklungen in der ostasiatischen Region. Unterhalb dieser Ebenen wies der Verlauf auch Züge eines koreanischen Bürgerkriegs auf. Und auf all dies wirkten auch die Konflikte ein, die Korea aus seiner jüngeren Geschichte, besonders der Kolonialzeit, übernommen hatte.

Die Grundlagen bis 1945

1905 wurde Korea japanisches Protektorat. Fünf Jahre später beseitigte das japanische Kaiserreich die spärlichen Reste der koreanischen Selbständigkeit und annektierte das Land. Die folgenden 35 Jahre lang nutzte das Kolonialregime Peitsche und Zuckerbrot, mit Akzent mal auf der einen, mal auf dem anderen. Japanischer Rassismus und Assimilationsbestrebungen standen in einem dauernd ungeklärten Verhältnis. In der Praxis hieß dies, dass es Spielräume für eine Schicht koreanischer Kollaborateure gab. Zu ihr gehörten die Großgrundbesitzer in dem noch weitgehend agrarisch geprägten Land, die sich darauf verlassen konnten, dass bäuerliche Opposition unterdrückt wurde. Zudem entstanden Ansätze eines koreanischen Industrie- und Handelskapitals. Dienst in der Polizei und im japanischen Militär sicherte einer gar nicht geringen Anzahl von Männern Auskommen und Machtpositionen gegenüber ihren Landsleuten – sofern sie sich den Kolonialherren unterordneten.

Nach einem gescheiterten Aufstand 1919 gründeten rechtsbürgerliche Gegner der Kolonialherrschaft in Shanghai eine Exilregierung, deren erster Präsident Rhee Syngman war. Sie entwickelte enge Kontakte zur chinesischen Guomindang und hatte ihren Sitz nach der japanischen Invasion in China 1937 in Chongqing, wohin auch die chinesischen Nationalisten ausgewichen waren. Die wichtigsten Vertreter dieser Regierung kehrten 1945 in den Südteil Koreas zurück, wie auch Rhee, der bereits 1925 abgesetzt worden war und seither in den USA gelebt hatte.

Die koreanische antikoloniale Linke dagegen arbeitete eng mit den chinesischen Kommunisten zusammen. Das gilt besonders für die Zeit ab 1931, also nachdem Japan in den nordöstlichen Teil Chinas einmarschiert war und dort 1932 den Marionettenstaat Mandschukuo eingerichtet hatte. Dies war der Teil Chinas, der an Korea grenzte, und hier entstand eine Guerillabewegung, die den Japanern und ihren Helfern erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Sie wurde schonungslos bekämpft; dies traf auch die Zivilbevölkerung, die verdächtigt wurde, die Partisanen zu unterstützen, oder von der die Japaner nur annahmen, sie könnte irgendwann ihren Gegnern helfen. Die Mehrheit der späteren nordkoreanischen Parteiführung, unter ihr Kim Il Sung, machte ihre prägenden Erfahrungen in diesen erbarmungslosen Kämpfen.

Der Partisanenkrieg band japanische Kräfte, die andernorts fehlten. Entscheidend war aber die Niederlage des japanischen Imperialismus gegen den im Pazifikraum konkurrierenden US-amerikanischen. Die Atombombenabwürfe vom 6. und 9. August 1945 besiegelten nur einen Kriegsausgang, der bereits zuvor entschieden war. Mit dem japanischen Zentrum brach auch das Kolonialreich zusammen.

Der regionale Kontext

Am 9. August, wie vereinbart neunzig Tage nach dem Ende des Krieges in Europa, begann die Sowjetunion eine Offensive gegen die japanischen Streitkräfte in der Mandschurei. Am 18. August landeten erste Truppen der Roten Armee in Korea. In der Folge rückten ihre Einheiten bis zu der von den USA festgelegten Demarkationslinie vor. Ab dem 8. September landeten US-Truppen an und nahmen den Südteil des Landes in Beschlag.

Mit dem Sieg über die Achsenmächte war die Geschäftsgrundlage der Alliierten entfallen, und bald stellte sich die natürliche Ordnung her, dass unterschiedliche Gesellschaftsformationen ein konflikthaftes Verhältnis haben. Die beiden koreanischen Landesteile fanden sich auf verschiedenen Seiten des bald einsetzenden Kalten Kriegs, der in Ostasien ein besonderes Gepräge aufwies. In Europa waren die Systemgrenzen stabil, und militärische Auseinandersetzungen blieben nach 1945 die Ausnahme. Im griechischen Bürgerkrieg konnten die Kommunisten nicht auf sowjetische Unterstützung bauen. Die Kämpfe faschistischer Partisanen in der Ukraine und Litauen blieben isoliert und ohne Aussicht auf Erfolg.

In Ostasien hingegen verstärkten sich antikoloniale und sozialistische Bestrebungen. Fortschrittliche Vietnamesen kämpften gegen den französischen Versuch, die an die Japaner verlorene Kolonialherrschaft wiederzuerlangen; die Bedeutung dieses Krieges trat erst später hervor. Viel mehr Aufmerksamkeit zog der chinesische Bürgerkrieg auf sich, der mit der Vertreibung der rechten Guomindang nach Taiwan 1949 nicht endete. Die Insel Hainan wurde erst im Mai 1950 befreit. Aus zeitgenössischer Sicht war durchaus ungewiss, ob nicht die Volksrepublik China den Bürgerkrieg zu einem konsequenten Ende führen und auch die nur unerheblich größere Insel Taiwan besetzen könnte. Wichtig für den Koreakrieg ist, dass die antikoloniale Zusammenarbeit chinesischer und koreanischer Kommunisten aus dem chinesischen Bürgerkrieg bestehen blieb und nordkoreanische Einheiten sich an den Kämpfen bis zur Befreiung Hainans beteiligten.

Aus westlicher Sicht stellte sich die Frage, wo eine Verteidigungslinie einzurichten war. Unumstritten war der wichtigste Partner der ehemalige Kriegsgegner Japan. Klar war auch, dass Japan ein ökonomisches Hinterland brauchte, zur Rohstoffgewinnung und zum Warenabsatz. Die US-Planungen liefen auf die Wiedererrichtung einer »ostasiatischen Wohlstandssphäre« hinaus, wie Japan seine Eroberungen bis 1945 beschönigend genannt hatte. Der Unterschied zur Kolonialzeit hätte nur darin bestanden, dass Japan kein imperialistischer Staat aus eigener Stärke gewesen wäre, sondern als Agent der Hegemonialmacht USA gehandelt hätte. Problem war allerdings, dass ein immer größerer Teil der entsprechenden Gebiete dem westlichen Zugriff entzogen war.

Dazu kam ein Mangel an verfügbaren militärischen Mitteln, denn nach dem Sieg 1945 waren die US-Streitkräfte deutlich verkleinert worden. So gab es heftige Auseinandersetzungen im militärischen und politischen Establishment der USA, ob es sich lohne, für Südkorea und/oder Taiwan zu kämpfen. Was Südkorea anging, waren strategische Entscheidungen mit lokalen Kämpfen untrennbar verknüpft.

Reform oder Reaktion

Von einer »Stunde Null« kann für das Korea von 1945 nicht die Rede sein. Feindschaftsverhältnisse der Vergangenheit bekamen im neuen globalen Kontext eine neue Funktion. 1945 war die Mehrheit der Koreaner links. Das freilich hatte mit Marx fast nichts und mit Lenin nur ein wenig zu tun. Den größten Bevölkerungsanteil hatte die Bauernschaft, die ein Leben am Existenzminimum fristete, unterdrückt durch Großgrundbesitzer und die mit ihnen verbündete japanische Polizei, in der freilich viele Koreaner als Kollaborateure ihr Auskommen fanden. Kaum besser als den Bauern war es den relativ wenigen Industriearbeitern gegangen.

Im Machtvakuum während des Zusammenbruchs der Kolonialherrschaft entstanden an den meisten Orten Volkskomitees. Diese Räteherrschaft war nicht per se kommunistisch oder auch nur links. In manchen Städten sicherten sich sogar wendige Kollaborateure Einfluss. In den meisten Fällen hatten allerdings Kräfte die Vorherrschaft, die einen mehr oder minder radikalen Bruch mit den bisher bestehenden Verhältnissen wollten.

Im Nordteil Koreas bestimmten die Anwesenheit sowjetischer Truppen und die Rückkehr der Kommunisten um Kim Il Sung aus dem Partisanenkrieg die Entwicklung. Eine umfassende Landreform sorgte für ökonomischen Ausgleich; es gelang der Parteiführung, insbesondere den ärmeren Teil der Landbevölkerung politisch einzubinden. Für die Verlierer dagegen gab es im Norden keine politischen Handlungsmöglichkeiten. Zahlreiche politische Gegner wichen in den Süden aus. Unter ihnen befanden sich diejenigen, die ökonomisch oder politisch ihre Privilegien verloren hatten, wie ehemalige Landbesitzer und Mitarbeiter der Kolonialverwaltung, aber auch ein Teil der christlichen Minderheit. Hier sind wie stets die Familienangehörigen mitzudenken, insofern beide koreanischen Seiten Verwandte von Gegnern mindestens als verdächtig, meist aber als mitschuldig ansahen.

Im Süden wurden fortschrittliche Ansätze seit Beginn der US-Invasion im September 1945 Schritt für Schritt zerschlagen. Die ersten Profiteure waren die koreanischen Polizeikräfte, die den Japanern als Handlanger gedient hatten und die unter den neuen Verhältnissen ihre alte Aufgabe zurückerhielten. Als Machthaber wurde der bereits siebzigjährige Rhee Syngman installiert, dem nach langem Exil eine eigene Machtbasis zu fehlen schien.

Allerdings erwies sich Rhee als schwieriger Partner. Rasch etablierte er sich als Vertreter der Großgrundbesitzer, die nicht nur eine Entwicklung wie in Nordkorea, sondern jegliche Reformschritte ablehnten. Machtbasis war bald nicht nur die Polizei, die grobe Methoden als Regelfall eingeübt hatte, sondern auch das im Aufbau befindliche Militär. Die Kommandostellen wurden von Leuten besetzt, die in der japanischen Armee ausgebildet worden waren. Manche von ihnen hatten ihr Handwerk bei der Partisanenbekämpfung in der Mandschurei perfektioniert. Im Koreakrieg standen sich darum an manchen Frontabschnitten dieselben Leute gegenüber, die sich bereits vor 1945 bekämpft hatten. Aus nördlicher Sicht steht also der Koreakrieg in der Reihe nationaler Befreiungskämpfe.

Rhees Regime stützte sich nicht allein auf den Gewaltapparat der Kolonialzeit, sondern auch auf paramilitärische Terrorgruppen wie die Nordwest-Jugend. Flüchtlinge aus dem Norden, die alles hassten, was sie für links hielten, gesellten sich zu faschistoiden Teilen des südkoreanischen Bürgertums sowie einem deklassierten und brutalisierten Bodensatz der Gesellschaft. Bis 1949 waren wirkliche Gewerkschaften zerschlagen und durch kapitaltreue Pseudogewerkschaften ersetzt. Auf dem Land hatten die Jugendtrupps, mit Wohlwollen und Beteiligung der Polizei, ein linkes Dorf nach dem anderen angegriffen. Dieser Vorgang ist mit dem Squadrismo der italienischen Faschisten 1920/21 gegen links dominierte Dörfer verglichen worden; die südkoreanischen Kämpfe waren gewaltsamer, was die Zahl der Opfer anging, aber auch die Methoden der Gegenwehr.

Grundsätzlich unterstützten die US-Besatzungstruppen Rhee. Dabei sahen die Verantwortlichen klar, dass die exzessive Unterdrückung aller Reformkräfte als kommunistisch die Stabilität des Landes gefährdete. Doch gelang es dem Regime, bürgerliche Kräfte, die für die USA eine Alternative hätten darstellen können, auszuschalten; wenn nötig, auch durch Morde. Auf diese Weise sicherte Rhee seine Position bis zu einem Volksaufstand 1960.

Wege in den Krieg

In dem Maß, in dem die Opposition in Südkorea legale Spielräume verlor, verschärften sich die Konflikte. Zum ersten Austragungsort wurde die ganz im Süden gelegene Insel Jeju, wo lange Zeit die Selbstverwaltung nahezu unbehelligt geblieben war. Erst die Brutalität, mit der 1948 ein von der Zentralregierung eingesetzter Gouverneur die einheimischen Verwaltungen abräumen wollte, führte zu einem Aufstand und zu einem mehrmonatigen Partisanenkrieg im gebirgigen Zentrum der Insel. Der Widerstand wurde mit genozidalen Mitteln zerschlagen. Bis zu einem Sechstel der Bevölkerung kam ums Leben oder flüchtete nach Japan.

Auf dem südkoreanischen Festland wurde die Partisanenbewegung 1949 zu einem ernstzunehmenden Faktor. Zeitweise verlor die Regierung die Kontrolle über weite Berggegenden im Süden und Osten des Landes. Wie zuvor auf Jeju waren Kommunisten an den Kämpfen beteiligt. Doch sahen, wie deklassifizierte Dokumente belegen, nicht einmal die USA darin eine von Nordkorea gesteuerte Aktion. Dennoch beteiligten sich US-Truppen an der Counterinsurgency, und wieder wurden Tausende von Zivilisten ermordet, die im Verdacht standen, die Guerilla unterstützt zu haben. Im Herbst werden die koreanischen Berge – anders als der vietnamesische Dschungel – laublos, der enge Südteil der Halbinsel bietet wenig Ausweichmöglichkeiten. Im Frühjahr 1950 waren die meisten Partisanengruppen entdeckt und zerschlagen.

Bis Ende 1948 waren die sowjetischen und die US-Truppen aus ihren jeweiligen Landesteilen abgezogen; auf beiden Seiten blieben Militärberater. Am 15. August 1948 war im Süden die Republik Korea gegründet worden, am 9. September 1948 zog der Norden mit der Demokratischen Volksrepublik Korea nach. Kim Il Sung verlangte eine friedliche Wiedervereinigung, bekam aber im Frühjahr 1950 nach Gesprächen in Moskau und Beijing Rückendeckung für eine militärische Lösung. Rhee Syngman machte intern wie öffentlich kein Geheimnis daraus, dass eine Eroberung des Nordens sein Ziel war. Die USA, die an einer kräfteraubenden Offensive in Korea nicht interessiert waren, versuchten bis zum Juni 1950, seine militärischen Möglichkeiten auf das für die Verteidigung Notwendige zu begrenzen, weshalb es bis dahin keine nennenswerte südkoreanische Luftwaffe gab.

Trotz dieser Beschränkungen intensivierten sich ab Mai 1949 Kämpfe an der Demarkationslinie. Truppen bis zu Regimentsstärke versuchten, auf das jeweils andere Gebiet vorzustoßen beziehungsweise verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Verlustzahlen einzelner Operationen gingen teils in den dreistelligen Bereich. Akten zeigen die US-amerikanische Einschätzung, dass in der großen Mehrzahl der Fälle die Aggression von ihrem schwierigen Verbündeten ausging und sich der Norden zumeist auf Gegenstöße beschränkte.

Ausgangslage und Kriegsbeginn

Im Frühjahr 1950 standen sich also an einer von den USA festgelegten Demarkationslinie zwei koreanische Parteiungen gegenüber, die beide den Anspruch erhoben, die gesamte koreanische Nation zu vertreten. Beide waren bereit, diesen Anspruch mit militärischer Gewalt durchzusetzen.

Dabei war im innerkoreanischen Kräftevergleich der Norden überlegen. Das Heer konnte etwa 182.000 Soldaten aufbieten, denen im Süden knapp 100.000 entgegenstanden, die durch etwa 50.000 bewaffnete Polizeikräfte ergänzt wurden. Auch was den Vorbereitungsstand angeht, lag der Vorteil klar auf der nordkoreanischen Seite. Hier gab es viele Einheiten, die in China im Gefecht mit der Guomindang-Armee Kampferfahrung gesammelt hatten. Auf der anderen Seite hatten die südkoreanischen Truppen zwar bei der Guerillabekämpfung Erfolge aufzuweisen. Dieser monatelange Einsatz hatte aber dazu geführt, dass die relativ neuen Divisionen nicht ausreichend Gelegenheit gefunden hatten, ein Gefecht mit verbundenen Waffen einzuüben, wie es bei der Auseinandersetzung mit einer regulären Armee beherrscht werden muss.

Der Großteil der südkoreanischen Truppen befand sich am 25. Juni dicht an der Demarkationslinie. Es war naheliegend, den Aufmarsch als Angriffsvorbereitung zu interpretieren, sei es für begrenzte Aktionen wie 1949 oder für eine umfassende Offensive. Die nordkoreanischen Truppenstationierungen dagegen waren nicht abgeschlossen. Ein Teil der Soldaten befand sich nicht einmal im Land, sondern wartete nach der Befreiung Hainans immer noch auf die Rückverlegung aus China. Zudem begünstigte die Jahreszeit keine umfassende Panzerattacke gegen den Süden. Das Straßennetz war mangelhaft, und die Regenzeit stand unmittelbar bevor.

Alles spricht also dafür, dass der Krieg aus nordkoreanischer Sicht verfrüht begann. Die dortigen Archive sind nicht zugänglich, es bleiben also nur Mutmaßungen. Mit großer Wahrscheinlichkeit begannen die Kämpfe bis vier Uhr morgens auf der Ongjin-Halbinsel ganz im Westen des Landes, die bereits im Vorjahr einen Brennpunkt gebildet hatte. Hier befand sich wegen der Demarkationslinie, die konsequent dem Breitengrad folgte, ein schmaler südkoreanischer Streifen ohne Verbindung zum restlichen Landesteil. Dass am 26. Juni westliche Medien die Eroberung der knapp nördlich der Demarkationslinie gelegenen Stadt Haeju meldeten, galt aus linker Sicht als Beweis für einen Angriff des Südens. Auch sei ein nördlicher Hauptstoß an diesem Punkt sinnlos gewesen, denn er hätte gegen eine Halbinsel unweigerlich in eine Sackgasse geführt.

Dem lässt sich mehrerlei entgegnen. Die Besetzung von Haeju kann Folge einer begrenzten südlichen Offensive gewesen sein, wie es sie zuvor schon mehrfach gab, oder sogar Resultat eines erfolgreichen Gegenangriffs. Wenn auch ein nördlicher Angriff an diesem Abschnitt tatsächlich zu keinem weiten Vordringen führen konnte, so beseitigte er doch zwei Gefahren. Südliche Truppen an dieser Stelle konnten abseits der Hauptfront einen Stoß gegen die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang führen, die weniger als 100 Kilometer entfernt war. Oder sie konnten sich nach Osten wenden und die Versorgungslinien für den Vormarsch auf die südkoreanische Hauptstadt Seoul bedrohen.

Möglich ist, dass die nordkoreanische Seite einen Angriff aus dem Süden als Beginn einer umfassenden Offensive deutete (oder dass der dies tatsächlich war). Möglich ist auch, dass ein begrenzter Angriff aus dem Süden einen willkommenen Vorwand für die eigene Offensive bildete. In letzterem Fall wäre das Kalkül gescheitert. US-Außenminister Dean Acheson wandte sich binnen weniger Stunden an den UN-Sicherheitsrat, wo die Version eines nordkoreanischen Überfalls nicht hinterfragt wurde. Der Sicherheitsrat beschloss eine Intervention auf seiten des Südens. Zu einem Veto kam es nicht, weil der chinesische Sitz noch von dem Regime Chiang Kai Sheks auf Taiwan besetzt war und weil die Sowjetunion aus Protest dagegen den Sicherheitsrat boykottierte.

Fest steht jedenfalls, dass die nordkoreanische Seite auf eine umfassende Offensive vorbereitet war. Bereits gegen fünf Uhr morgens begannen Landungen an der südkoreanischen Ostküste, kurz darauf auch Großangriffe gegen die Provinzhauptstadt Chuncheon und vor allem gegen Seoul. An manchen Punkten leisteten südkoreanische Einheiten energischen Widerstand, an vielen anderen löste sich die Front sehr schnell auf. Bereits am 28. Juni fiel Seoul, und Rhee Syngmans Regierung musste in den Süden fliehen. Vom 14. bis 21. Juli scheiterte der Versuch südkoreanischer und rasch herbeigeführter US-amerikanischer Einheiten, bei Daejeon eine Haltefront zu bilden.

Wendepunkte

Zwar kontrollierte der Süden Anfang August nur noch einen Bereich um die Hafenstadt Busan im Südosten des Landes, der sich zudem verkleinerte. Doch hatte der Vormarsch des Nordens seinen Kulminationspunkt überschritten. Die Truppen waren erschöpft, die Versorgungswege – angesichts unzureichender Straßen – überdehnt. Gleich zu Beginn des Krieges hatten die USA die nordkoreanischen Flugzeuge zerstört und besaßen seitdem die Luftherrschaft. Zudem war der nordkoreanische Vormarsch zwar gemessen am schwierigen Gelände schnell gewesen. Angesichts der US-Verstärkungen, die nun eintrafen, hatte er aber immer noch zuviel Zeit gebraucht. Bereits im August waren die Verteidiger bei Busan zahlenmäßig und von der Ausrüstung her überlegen. Als am 15. September US-Truppen bei Incheon, der Seoul vorgelagerten Hafenstadt, landeten, hatten die nordkoreanischen Truppen den Feind im Rücken.

Die weitere Entwicklung kann hier nur skizziert werden. Am 30. September überschritten südkoreanische Truppen die Demarkationslinie. Bis November war – oberflächlich betrachtet – nicht nur ganz Südkorea wieder in der Hand des Rhee-Regimes. Einheiten Südkoreas, der USA und anderer Staaten, die für die UN Kontingente gestellt hatten, waren bis kurz vor die chinesische Grenze vorgestoßen. US-Oberbefehlshaber Douglas MacArthur versprach seinen Truppen, bis Weihnachten zu Hause zu sein. Daraus wurde nichts. Es stellte sich heraus, dass sich die nordkoreanische Armee, die er geschlagen wähnte, weitgehend unbeschädigt zurückgezogen hatte und dass er es im Hinterland wieder mit einer starken Guerillabewegung zu tun hatte. Zudem griff nun die Volksrepublik China mit starken Freiwilligenkräften ein.

Die Offensive von Norden, die in kurzer Zeit wiederum bis über die Demarkationslinie führte, markiert auch den Übergang zu einem Staatenkrieg im globalen Kontext. Resultat war schließlich ein Stellungskrieg, der 1953 zu einem Waffenstillstand und bis heute zu keinem Friedensschluss führte. Wie aber lässt sich der Charakter des Krieges bis Ende 1950 beschreiben?

Fest steht, dass er auch gegen Nichtkombattanten mit großer Brutalität geführt wurde. Alle Seiten verübten Massaker. Die weitaus meisten sind südkoreanischen Kräften zuzuschreiben, die beim Rückzug 1950 die zahlreichen politischen Gefangenen oft nicht mitnahmen, sondern ermordeten, und im September und Oktober in Nordkorea gegen wirkliche und vermeintliche Kommunisten wüteten. US-Einheiten löschten aus Angst vor einer Guerilla ganze verdächtige Dörfer aus und metzelten Flüchtlingsgruppen nieder, um der möglichen Infiltration der eigenen Linien durch Kommunisten vorzubeugen. Die nordkoreanische Gewalt blieb, jedenfalls gemessen daran und mit manchen Ausnahmen, beschränkt und zielgerichtet. Freilich wurden während der kurzen Besatzungszeit im Süden in den früheren Partisanengebieten manche Rechnungen aus dem Vorjahr und überhaupt mit den Großgrundbesitzerfamilien beglichen. Entsprechendes gilt natürlich auch für die Phase danach.

Der Koreakrieg, so lässt sich bilanzieren, begann nicht am 25. Juni 1950. Als Kampf gegen Japan, seine Methoden und seine Kollaborateure nahm er 1931/32 in der Mandschurei seinen Anfang. Als südkoreanischer Bürgerkrieg gegen ein faschistoides Regime war er seit dem Jeju-Aufstand 1948 im Gang. Die Auseinandersetzung an der Demarkationslinie, die von keinem Koreaner als Grenze gesehen wurde, hatte 1949 begonnen. Die nordkoreanische Offensive von 1950 war dann eine verhängnisvolle Ausweitung.

Die Folgen von all dem reichen bis heute. Wenn der südkoreanische Präsident Yoon Suk Yeol zur Begründung seines Putschversuchs vom 3. Dezember 2024 die Gefahr »pronordkoreanischer staatsfeindlicher Kräfte« herbeilog, gehört das in die Tradition Rhee Syngmans. Dass er damit nicht durchkam, weckt Hoffnung. Freilich fand er zahlreiche militante Unterstützer; die Sache ist weder ausgekämpft noch beiseitegelegt.

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