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Aus: Ausgabe vom 23.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Die Jungs der unsichtbaren Hand

Juan S. Guses »Tausendmal so viel Geld wie jetzt« ist eine Männlichkeitsstudie unter Kryptognostikern
Von Ken Merten
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Um 2.000 Euro ärmer: Autor Juan S. Guse

Wie der selige Ronald M. Schernikau stets betonte: »Der Eine weiß das Eine und der Andere das Andere.« Wohlgemerkt: »weiß«, nicht meint. Der Schriftsteller Juan S. Guse (zuletzt: »Miami Punk«, 2019) fliegt 2023 nach Barcelona und nimmt an einer Messe des Kryptowährungsunternehmens Chainlink teil. Für 400 Euro gibt es indisches Essen all you can eat, die Möglichkeit, gegen die Freigabe der eigenen Mailadresse zur Belästigung durch Newsletter einen Pulli zu bekommen und »etwas, das auf der Hannover Messe seit langem niemand mehr gesagt hatte«: »This year feels a lot bigger than last time«, so irgendein CEO-Kasper (Guse überträgt O-Töne nur, wenn sie nicht englischsprachig sind) in einer Halle »voller junger Männer«. Guses »Tausendmal so viel Geld wie jetzt« ist ein Essay über Crypto-Boys, nebst der Annäherung an die Durchkapitalisierung mittels Onlinegeld eben auch eine Männlichkeitsstudie.

Gewöhnliche Menschen

Es gibt ja den trefflichen Witz, dass Libertäre alles, was in der Gesellschaft passiert – zumal, wenn es vom Staate kommt –, als Vergewaltigung empfinden, mit Ausnahme des Deliktes selbst. Die Gesichter des Libertarismus lassen nachts aus dem Schlaf fahren: Javier Milei, der vor zwei Jahren argentinischer Präsident wurde, und Andrew Tate, gegen den Verfahren laufen, unter anderem wegen Menschenhandels und Vergewaltigung, sind jene menschenförmigen Abfallprodukte des realexistierenden Kapitalismus, dessen Schrecken sie zu mehren trachten. Die beiden reichen, um jedwedes Argument gegen den Etatismus zu Staub zerfallen zu lassen.

Guse aber hat sich bewusst Gesprächspartner gesucht, die ihre Geltungssucht und Größenwahn im Zaum halten: »Gewöhnliche Menschen, die aufgrund eines Gemischs aus Zufall, überschüssigem Geld und Glauben an diese eine sehr spezifische Technologie über Nacht einen Klassensprung erlebt haben, der ihr Verhältnis zur Welt für immer verändert hat.«

Basti etwa lebt noch immer in der kleinen Dortmunder Wohnung, in der er schon hauste, als er sich, Jahre vor der Teillegalisierung, als Grasdealer verdingte. Jetzt tradet er, und um die viele Bildschirmzeit auszugleichen, hilft er als Friedhofsgärtner aus. So wie sein Freund Jan, der Guse aus seiner Salatschüssel voll Airpods abgibt, ist Basti ein Kumpeltyp mit Bodenhaftung, dem die Reichtumsverteilung zumindest suspekt erscheint: Er sieht andere, die eben jene zum Handel freigegebenen Werte durch Arbeit schaffen und dabei für Mindestlohn rackern, und er mache »mit Zeug, IRGENDWELCHEM ZEUG« am PC »gestört viel Geld«. Na ja, zumindest bis die Kryptowährung einstürzt, in die er und in die auf sein Anraten auch Guse investiert hat. Letzterer büßt dabei wohl rund ein Drittel seines Verlagsvorschusses ein.

Lobbyismus ohne Fahne

Guse erfährt am eigenen Leib, wie zentral im Kryptogeschäft narrative Marktmaschen sind und dass das Maß der Spekulation sich oft kaum vom Würfeltisch im Casino unterscheidet. Entsprechend wenig Vertrauen wird bei der Lektüre in die »technosozialen Gerechtigkeitsvorstellungen« (Guse) geweckt, ohne dass der Autor von seiner zwar distanzierten, mit dem Gegenstand jedoch vertrauten und an diesem interessierten Warte aus ins Polemisch-Gehässige kippt. Guse schreibt schön, und er ist ein lieber Kerl. Er tut es mit »Tausendmal so viel Geld wie jetzt« sehr und ist es dabei zu sehr. Ob das Kryptoganze nicht nur ein Scamspuk ist, wird eher über Bande gefragt.

Die einen, die das Monetäre durchprivatisieren und von der Staatsordnung trennen wollen, mögen darin noch Gerechtigkeit sehen und sich als Szene der Monaden verstehen, die keine Umzüge veranstalten oder Parteien gründen muss – Lobbyismus, denkt der Rezensent, geht gut ohne Fahne in der Hand. Andere haben dann doch das reine Bedürfnis, sich selbst ein möglichst angenehmes Leben einzurichten, fernab der Mehrheitsmenschheit in der ausufernden Freizeit Klettern zu gehen, hobbymäßig Coronamaßnahmen zu hinterfragen und seine Denkkapazitäten darauf zu verwenden, Feministinnen wie Schwule für den Untergang der von Christus gewollten Familie verantwortlich zu machen. Guses Begegnung mit so einem Exponat driftet ins Phantastische: Der Wald brennt, es gibt Verunfallte; die unsichtbare Hand des Marktes ist keine, die greifen lässt, wenn man an der Felswand abrutscht.

Dass das Reich der Freiheit nicht entstünde durch die vollendete Deregulierung der Wirtschaft, konnte man sehen, als in den 1970ern die »Chicago Boys« mit Milton Friedman und Friedrich August von Hayek in den Köpfen mit dem Putschpräsidenten Augusto Pinochet kuschelten, weil sich Marktliberalismus und Faschismus vorzüglich miteinander vertragen. Auch die Hausgöttin des nordamerikanischen Libertarismus, Philosophin Ayn Rand, war der Ansicht, dass der Staat nur dann eingreifen darf, wenn Eigentum bedroht sei. Rausgerechnet dabei natürlich: wenn die eine nur ihre Arbeitskraft veräußern kann und der mit den Produktionsmitteln ihren und den erzeugten Mehrwert ihrer Kolleginnen und Kollegen enteignet und sich zuführt.

Bitcoinbumms

Wie Rand aber fehlt den ideologisch buntscheckigen Kryptognostikern ein Verständnis davon, was die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vulgo Imperialismus bedeutet und wie stark unterschiedliche Ausgangslagen maßgeblich sind für das Anhäufen von Reichtum. Das sieht man nicht nur dahingehend, dass der ganze Bitcoinbumms vornehmlich ein Jungsding ist, sondern auch daran, dass fürs Investitionsspiel stets eine Startmonete, ob durch Ticken oder durch Vati, notwendig ist. Existenz: Gesichert soweit. Von da aus lässt sich natürlich spinnen und sich die Rückkehr zum Kapitalismus der freien Konkurrenz, aber unter den Vorzeichen einer Erde der direkt miteinander vernetzten Individuen, prima imaginieren, in dem ein demokratieförmiger Markt mit marktförmiger Demokratie irgendwie, jedenfalls nicht staatlich, verhindert, dass ein Bitcoiner viele ökonomisch totschlägt.

Guses letzte, eine Zufallsbegegnung auf der Messe in Katalonien, ist der Argentinier Sebastian, Sohn eines Ladenbesitzers in Rosario, der erst seinen USB-Stick mit 250 Bitcoins verschlampte, und ihn dann wiederfand, als der Kurs der Währung sich im Vergleich zum Zeitpunkt seines Kaufs verfünftausendfacht hatte. Milei? Na ja, das Kettensägenbuhei und das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen – hm. Aber mit dem Staat, der finanzielles Analphabetentum erzeuge, würde der ja aufräumen.

Der ob seiner Fehlinvestition um schmerzhafte 2.000 Euro ärmere Juan S. Guse hat uns mit »Tausendmal so viel Geld wie jetzt« in Sachen Bitcoin und Co. ein Stück weit alphabetisiert, und – zurück zum Eingangszitat – uns gegen Ende seines Langessays mitgegeben, auf die »basale Einsicht unserer Abhängigkeit aufgrund der arbeitsteiligen Organisation von Wissen« zu achten. Eine Achtsamkeit, die sich anbietet, wenn wieder einer aus dem Internet daher kommt, wahrscheinlich keiner, der sich nach der Ermordung des griechischen Sozialstaats durch die EU-Troika mit AIDS infizieren musste, um noch im Krankenhaus eine Behandlung zu erfahren. Aber einer, der wisse, dass das Paradies ein abolitionistischer und entsteuerter Freihandel sei. Wissen wir das Andere: es besser.

Juan S. Guse: Tausendmal so viel Geld wie jetzt, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025, 192 Seiten, 23 Euro

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