»Beweg deinen Arsch!«
Von Holger Römers
Kaum dass »Alle lieben Touda« begonnen hat, stellt der Film sich bereits in Frage. Noch vor dem ersten Bild verkündet eine Texteinblendung: »Alles begann mit einem Schrei. Ein Schrei wurde Gesang.« Doch diesem angedeuteten Schöpfungsmythos der marokkanischen Volksmusik Aïta widerspricht gleich die erste Sequenz, indem sie die genannte Reihenfolge umkehrt: Alles beginnt mit Gesang, der in einen verzweifelten Schrei mündet.
Regisseur Nabil Ayouch, der mit seiner Ehefrau Maryam Touzani, der Regisseurin von »Adam« (2019) und »Das Blau des Kaftans« (2022), auch das Drehbuch zu seinem achten Kinospielfilm verfasst hat, führt die Titelfigur direkt bei einem Auftritt ein. Singend und tanzend ist Touda (Nisrin Erradi) zwischen einigen Männern zu sehen, die sich in einer sonnenbeschienenen Landschaft zu einem privaten Fest versammelt haben. Schnitte vermitteln uns, dass die Dämmerung einbricht, während Touda weiterhin Lieder vorträgt – bis sie durch einen nächtlichen Wald rennt, auf der Flucht vor den eigenen Zuhörern, die immer besoffener und zudringlicher geworden sind.
So ist von Anfang an klar, dass der Beruf, den Touda in einer anonymen marokkanischen Kleinstadt ausübt, mit der Gefahr sexualisierter Gewalt verbunden ist. Szenen von einer Hochzeitsfeier und einem Volksfest zeigen, dass das Publikum die sogenannten Sheikhats für ihre Aïta-Darbietungen belohnt, indem es ihnen Geldscheine ins Dekolleté steckt. Von Barbetreibern werden die Entertainerinnen an den Einnahmen aus dem ausgeschenkten Alkohol beteiligt, zu dessen Konsum sie die – selbstredend männlichen – Gäste animieren. Deshalb entspricht es ökonomischer Logik, wenn Touda von einer Kollegin barsch aufgefordert wird: »Beweg deinen Arsch!« Sie muss buchstäblich einkalkulieren, in welchem Maß sie das Begrapschtwerden zulassen möchte.
Das ergibt einen reizvollen Widerspruch zu der Beharrlichkeit, mit der diese Frau an einer Idealisierung ihres Metiers als traditionsreicher Kunst festhält, sowie zu der emanzipatorischen Deutung, die die anfängliche Texteinblendung der ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte der Sheikhats zuschreibt. Dagegen zeichnet sich ab, welchem Lebensweg die Analphabetin mit ihrem Gesang zu entkommen versucht: Während sie mit einem Bus über Land fährt, huschen am Fenster Impressionen von Bäuerinnen vorbei, die Wasserbehälter und Holzbündel schleppen. Bei ihrem Besuch im Heimatdorf hält die vor Ort grassierende Arbeitslosigkeit ihren Bruder indes nicht von moralisierender Verachtung ab.
Da ihr neunjähriger Sohn (Joud Chamihy) als Gehörloser in der Provinz keine Bildungschancen erhält, sucht die Alleinerziehende kurzentschlossen in Casablanca ihr Glück. Dort erweist sich ihre Vorstellung, dass wenigstens Großstädter Aïta zu schätzen wüssten, als naiv, kaum dass ein Taxifahrer die Adresse eines vermeintlich berühmten Cabarets zu hören bekommt. Wenn Touda bei Engagements in einem Nachtklub die Sympathie eines alten Geigers (El Moustafa Boutankite) weckt, scheinen im Kontrast mit dessen beruflicher Routine zudem die Grenzen der musikalischen Ausbildung (und des Talents?) auf, die die Sängerin mit mitreißendem Temperament zu überspielen pflegt.
Dass Ayouch diesen lockeren Plot impressionistisch ausfransen lässt, kann also als objektiver Ausdruck einer subjektiven Entzauberung verstanden werden: Seine Hauptfigur kann sich schließlich nichts mehr vormachen. Das wirft jedoch zugleich die Frage auf, ob der 1969 in Frankreich geborene Filmemacher sich selbst etwas vormachen will. Oder den Zuschauern, die diese europäisch-marokkanische Koproduktion, die außer beim Marrakech International Film Festival noch in keinem arabischen Kino gezeigt wurde, seit der ein Jahr zurückliegenden Cannes-Premiere vornehmlich in westlichen Arthousekinos gefunden hat? Oder ob dieses Publikum sich seinerseits dem liberalen Wunschdenken hingeben mag, robuster Selbstbehauptungswille könnte zur Selbstermächtigung ausreichen? In jedem Fall ist es folgerichtig, dass das ungeschnittene achtminütige Bravourstück, in dem Kamerafrau Virginie Surdej ihrer Arbeit mit der Steadicam scheinbar traumwandlerische Eleganz verleiht, zuletzt ein Maximum an schillernder Mehrdeutigkeit herbeizaubert.
»Alle lieben Touda«, Regie: Nabil Ayouch, Marokko/Frankreich/Dänemark u. a. 2024, 102 Min., bereits angelaufen
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