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Aus: Ausgabe vom 30.05.2025, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Die gescheiterte Hoffnung

»All about Earthquakes« nach Heinrich von Kleist in der Regie von Christopher Rüping, Uraufführung der Wiener Festwochen im Volkstheater
Von Eileen Heerdegen
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Viele Fragen zur Liebe: Das Weltgericht kann nicht entsetzlicher sein

Am Ende ragen die Kirchenbänke in Richtung Olymp, zum verlorenen Paradies, sichtbar von schweren Seilen aus dem Schnürboden und doch wie von unsichtbarer Hand hochgezogen und schräg gestellt, wie eine hölzerne Adaption von Caspar David Friedrichs »Eismeer – die gescheiterte Hoffnung«.

Kurz zuvor hat hier ein Massaker stattgefunden, das mögliche Utopien von Liebe unter den Menschen brutal beendet hat, so wie eigentlich alles, von dem wir glaubten, dass es sich zu einer besseren, friedlicheren Welt ändern könne, immer schneller, immer brutaler beendet wird.

Wie ein Erdbeben, so wie die Zerstörung von Santiago de Chile 1647, oder das noch verheerendere Beben 1755 in Lissabon mit bis zu 100.000 Toten, das zeitgenössische Philosophen und Dichter zum Theodizee, zur Frage des guten und gerechten Gottes diskutieren und wohl auch daran verzweifeln ließ. So auch Heinrich von Kleist, der 1806 in seiner Novelle »Das Erdbeben in Chili« eine düstere Geschichte von großer Liebe, von Hass und Vernichtungswillen erzählt.

Der preisgekrönte Regisseur Christopher Rüping hat eine Bühnenadaption des Kleist-Textes mit Grundlagen von »All about love« (Uraufführung am 25. Mai) der amerikanischen Autorin, Kämpferin gegen Rassismus, Kapitalismus und Patriarchat Gloria Jean Watkins aka bell hooks versehen, um die erdrückenden Tatsachen durch den Glauben an eine Utopie erträglicher zu gestalten.

Neben ein paar Banalitäten zum Thema lässt sich allerdings wenig Utopisches finden. Das macht aber gar nichts, denn Rüping und seinem 14köpfigen internationalen Schauspielteam ist etwas ganz Großartiges gelungen. Mit viel Witz und Komik, von in verschiedener Intensität gespielten Erdbeben mit und ohne bewegende Momente, mit beeindruckender Schauspielkunst, wunderbaren Kostümen (Lene Schwind), Musik und einem furiosen Schlagzeugausbruch von Matze Pröllochs, mit immer wieder Spiel im Spiel, entsteht eine Leichtigkeit, die die Zuschauer am Ende um so fassungsloser ins Böse stürzen lässt – als täte sich die Erde auf.

Die Kleistsche Story einer unstandesgemäßen Liebe, hier als modernes No-Go: Eine 65jährige Frau, Josephe (brillant, mädchenhaft-erwachsen, die 64jährige Elsie de Brauw), deren Liebster Jeronimo (Moses Leo, leider etwas gebremst) nicht nur eine person of colour, sondern auch noch 27 Jahre jünger ist. Josephes Verbannung in ein Kloster kann die Liebe nicht beenden, aber weil sie dort ein Kind gezeugt haben, werden sie verurteilt. Sie zum Tod, Jeronimo zu Gefängnis, wo er sich am Tag ihrer Hinrichtung das Leben nehmen will. Beides verhindert das Erdbeben, die Welt in Trümmern, nichts blieb, wie es war, und für einen kurzen Moment bilden die Überlebenden eine zugewandte, von Freundlichkeit und großer Hilfsbereitschaft geprägte Gemeinschaft.

Doch ist das nicht nur Schockstarre, sondern Utopie, und gar die von Kleist, wie Rüping sagt, »er erschrickt vor dem utopischen Potential seines eigenen Textes, vor der radikalen Aufforderung zur Veränderung, dass er sie mit aller Gewalt niederschreibt, wörtlich niederknüppelt«? Ich glaube nicht, dass Kleist, der sich mit 34 Jahren das Leben nahm, an irgend etwas Gutes geglaubt, oder es auch nur erhofft hat.

Aber wissen wir es? Und überhaupt, »What is love?« Fragen wir doch Haddaway, der mit seiner 90er Jahre Eurodance-Nummer einen prominenten Platz im Stück bekam. Viele Fragen zur Liebe – »Was meinst du, Haddaway?« Wir einigen uns auf, »Baby, don’t hurt me«, richtig ist das allemal.

Und weil sowenig Liebe auf der Welt ist, triumphieren Mord und Totschlag. Trotz Warnungen eines »Sehers« nutzen Josephe und Jeronimo die Gunst der Stunde nicht zur Flucht, wollen sich nicht länger verstecken, wollen an den Wandel glauben. Der Dankgottesdienst (das Verwandeln des hohen Gerüsts per Hand mit extrem langen Stangen in eine prächtig bunte Kirchenfensterfassade dauert wie manch andere Szene vielleicht ein Tickerl zu lang) gerät zum Lynchhappening. Statt ihrem Gott für das Überleben der Katastrophe zu danken, bestraft die Gemeinde die vermeintlich Schuldigen in einem Blutrausch, dem nicht nur das tragische Liebespaar zum Opfer fällt, sondern auch, durch eine Verwechslung mit Josephes Kind, das Baby von Donna Fernanda, das brutal mit großem Schwung an einem Kirchenpfeiler zerschmettert wird. Auch wenn es hier nur ein Stoffbündel ist, gerät die Szene ähnlich schmerzhaft brutal wie der Kindermord von Donald Sutherland in Bertoluccis »1900«.

Im Interview wünschte sich Christopher Rüping, »Ich fände es toll, wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer nach dem Abend das Gefühl hätten, sie wären bei etwas dabeigewesen, was sie vielleicht nicht genau einordnen können, wofür sie nicht direkt Worte finden. Dass es sich so anfühlt, als wären die Hände anders durchblutet und die Wangen gerötet. Wie bei einem Konzert, das man gemeinsam erlebt hat.« Gelungen.

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