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Aus: Ausgabe vom 23.05.2025, Seite 10 / Feuilleton
Rolf Dieter Brinkmann

Neue Subjektivität

Skrupellos sein. Brinkmanns Brandflecken
Von Frank Schäfer
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Kaffeesatzzeichen? »Der Kaffee ist fertig« (R. D. Brinkmann, »Westwärts 1 & 2«)

Als Hans Magnus Enzensberger in seinem berühmten »Kursbuch 15 (1968)« ein flammendes Plädoyer für Agitpropliteratur hielt und damit indirekt die »Literatur als Kunst« für tot erklärte, sprach er allen Stalinisten aus der Seele, für die das Belletristische ohnehin bloß eine hübsche Nebensache war oder, schlimmer noch, eine ungewollte Ablenkung vom politischen Kampf.

Und als die Revolution dann auf sich warten ließ, wurde in den Köpfen Beton angerührt und die politische Basisarbeit noch mal intensiviert. Der Spaß blieb dabei irgendwann auf der Strecke. Die ehemals hedonistische Linke hatte im Eifer des Gefechts ihren Hedonismus drangegeben.

Ein Strategiewechsel schien angebracht und angesichts der umsturzunwilligen Proleten in den Fabriken ja auch naheliegend: Wenn sich das Kollektiv, die Gesellschaft, der Staat nicht fundamental verändern lassen, damit das Individuum darin besser leben kann, muss das Individuum zunächst besser werden, damit das Kollektiv sich sukzessive verändert. Und so konnte man auf einmal das Private, Alltägliche, die Gefühle, also das vermeintlich Unpolitische politisch verstehen.

Das ist zunächst mal eine gewaltige Lockerungsübung. Man darf sich endlich wieder über etwas unterhalten, das die unmittelbaren, ganz konkreten Bedürfnisse berührt, bemerkt dabei aber auch bald, dass die Bauklötze der politischen Agitatorik sich auf diesem Spielfeld als ziemlich unhandlich erweisen. Jetzt ist »Literatur als Kunst« eben doch wieder gefragt. Denn wer, wenn nicht sie, vermag etwas zur Sprache zu bringen, von dem es noch gar keine richtige Sprache gibt – oder das zumindest unter Abstraktionen verborgen liegt.

Peter Schneiders »Lenz« von 1973 ist das Buch, das diesen Paradigmenwechsel popularisiert. Schneider selbst, einer aus der Führungsriege des SDS, hatte bei Bosch in der Produktion gearbeitet, um die Werktätigen zu agitieren, war dort aber auf taube Ohren gestoßen. »Lenz« ist seine Therapie. Hier beschreibt er die zunehmende Hilflosigkeit der Linken, deren Forderungen ins Leere laufen und schließlich zu leeren Phrasen gerinnen, während das wilde Leben woanders stattfindet. Das will man wiederhaben oder auch erstmals endlich richtig auskosten. »Erfahrungshunger« nennt Michael Rutschky seinen großen Essay über die siebziger Jahre, in »Lenz« wird der exemplarisch formuliert.

Etwa, wenn Schneiders Alter Ego in seiner Mao-Lektüregruppe gelangweilt die Gedanken schweifen lässt. »Es kam Lenz im Moment so komisch vor, dass alle diese Genossen mit ihren heimlichen Wünschen, mit ihren schwierigen und aufregenden Lebensgeschichten, mit ihren energischen Ärschen nichts weiter voneinander wissen wollten als diese sauberen Sätze von Mao Zedong, das kann doch nicht wahr sein, dachte Lenz. Wollten sie etwa nicht auch einfach zusammen sein, ihre Genüsse und Schwierigkeiten miteinander austauschen, einfach aufhören allein zu sein?«

»Neue Subjektivität«, »neue Empfindsamkeit«, »neue Innerlichkeit« heißen die Schlagworte für diese literarische Zeitströmung, die sich weiterhin durchaus links verortet, sich aber auch endlich wieder der Realität in all ihren Facetten stellen will. Brinkmann gehört zu den frühen Propagandisten dieses erweiterten Realismuskonzepts. Im Vorwort seines Gedichtbandes »Die Piloten«, also im selben Jahr, in dem Enzensberger die Literatur zu Grabe trägt, skizziert er eine Poesie, die sich kalkuliert kleinmacht und sensibilisiert für die unmittelbare, profane Erfahrung. »Ich denke, dass das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten.«

Anschließend führt er aus, und zwar tatsächlich »konkret«, was das alles sein kann. Es gehe eben nicht mehr um »die Quadratur des Kreises«, sondern »um das genaue Hinsehen, die richtige Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse, während jemand reinkommt ins Zimmer und fragt, gehen wir heute Abend in die Spätvorstellung? Mir ist das Kaugummi ausgegangen! Eine Zeitung ist aufgeschlagen und man liest zufällig einen Satz, sieht dazu ein Bild und denkt, dass der Weltraum sich auch jetzt gerade wieder ausdehnt.«

Die totale, scheinbar banale Alltäglichkeit wird hier literaturfähig. »Man braucht nur skrupellos zu sein, das als Gedicht aufzuschreiben.« Brinkmann war skrupellos genug.

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