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Aus: Ausgabe vom 20.05.2025, Seite 1 / Titel
Gazastreifen

Verbrechen mit Kalkül

Gazastreifen: Israel verstärkt Feldzug, um Enklave vollständig einzunehmen. US-Druck laut Premier ursächlich für »Hilfe« an Palästinenser
Von Jakob Reimann
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»Standing together«: Israelis und Palästinenser fordern an der Grenze zu Gaza ein Ende des Gemetzels (19.5.2025)

Die israelischen Streitkräfte haben am Montag eine neue Phase im Krieg gegen den abgeriegelten Gazastreifen eingeleitet. Die Bodenoffensive – biblisch-reaktionär von der Führung mit »Gideons Streitwagen« benannt – folgt auf eine Woche intensiver Luftangriffe, bei denen allein in den 72 Stunden zuvor über 300 Menschen getötet wurden. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte in einer Videobotschaft: »Wir werden alle Teile des Gazastreifens kontrollieren … aber wir müssen es so tun, dass wir nicht aufgehalten werden können.«

Gleichzeitig wurde erstmals seit Verhängung der Blockade um den Gazastreifen am 1. März am Montag 20 Trucks mit Hilfslieferungen die Zufahrt gewährt. Dies entspreche gerade einmal drei Prozent der zum Überleben notwendigen Mengen, schrieb der palästinensische Journalist Muhammad Shehada, der zutreffend von einem »PR-Gag« sprach, »um Zeit für die Vollendung des Völkermords zu gewinnen«. 57 Kinder sind durch die aktuelle Blockade verhungert, meldete jüngst die UNO, eine halbe Million Menschen ist akut vom Hungertod bedroht. Dass die rein symbolische Minimalöffnung der Grenze keineswegs dem Bestreben nach Verbesserung der Lage verhungernder Menschen entspringt, sondern Kriegsstrategie ist, machte Netanjahu klar: Langjährige Unterstützer aus dem US-Kongress – »unsere besten Freunde in der Welt« – hätten ihm mitgeteilt, dass die Hungerszenen zum Entzug lebenswichtiger Unterstützung führen könnten. »Aus diesem Grund müssen wir das Problem irgendwie lösen, um den Sieg zu erringen.«

Nach den derzeitigen Plänen werde »Gideons Streitwagen« etwa ein Jahr andauern, berichtete die rechte Tageszeitung Israel Hayom. Somit wird offensichtlich, dass das israelische Regime kein Interesse an einem erfolgreichen Ausgang der gegenwärtig in Katar stattfindenden Waffenstillstandsgespräche hat. In der Militärführung gibt es deutliche Kritik an der Strategie hinter der neuen Operation, hieß es dort weiter. Offiziere seien frustriert über »die Entscheidung, nicht alle verfügbaren Optionen zu nutzen«; insbesondere wird beklagt, dass die erste Phase der Operation keine Vorbereitungen zur Deportation oder Umsiedlung von Palästinensern in Drittländer umfasse.

Unter andauernden Luftangriffen im gesamten Küstenstreifen erließ das Militär Evakuierungsaufforderungen für die Stadt Khan Junis und umliegende Areale im Süden; die Menschen »müssen sich sofort westwärts in das Gebiet Al-Mawasi evakuieren«, hieß es in der Mitteilung. Das Militär werde in dem designierten Gebiet einen »beispiellosen Angriff« starten, wobei sich die gezeigte Karte und der begleitende Text widersprachen, da etwa auch Distrikte im nördlicher gelegenen Gouvernement Deir Al-Balah eingefärbt waren, die Menschen dort sich also ebenfalls in Lebensgefahr befanden.

Betroffen ist ein Areal von rund 80 Quadratkilometern, was 22 Prozent der Fläche der palästinensischen Enklave entspricht. Bereits zuvor waren knapp 70 Prozent der Gesamtfläche unter Evakuierungszwang, meldete Amnesty International Anfang Mai. Final werde die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens in einem schmalen Streifen Land an der ägyptischen Grenze »konzentriert«, hatte Israels faschistischer Finanzminister Bezalel Smotrich in verstörender Rhetorik laut Times of Israel jüngst auf einer Siedlerkonferenz verkündet. Der Rest der Enklave werde »vollständig zerstört«.

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  • Leserbrief von Susanne Bauer aus Kaiserslautern (19. Mai 2025 um 23:07 Uhr)
    Ich finde es zutiefst beschämend, dass die deutsche Regierung weiterhin keine Veranlassung sieht zu handeln und der Vernichtung der palästinensischen Zivilbevölkerung, ohne Ausübung jeglicher Kritik am Staat Israel, mit stoischer Ruhe zuschaut. Wo bleibt der Aufschrei der Kirchen? Wo sind die Christen? Haben jetzt alle Bedenken als Antisemit zu gelten oder sind wir alle so wohlstandsverwahrlost, dass uns das unendliche Leid der Menschen in Gaza nicht interessiert? Wir alle machen uns schuldig, indem wir schweigen.

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