»Bis zum Ende«
Von David Siegmund-Schultze
Ein langer Zug von Menschen, das wenige Hab und Gut bei sich, das sie tragen können. Aus ihren Häusern getrieben, entwurzelt und entrechtet. Die Bilder damals und heute sind sich erschreckend ähnlich. Vor 77 Jahren, rund um die Staatsgründung Israels im Mai 1948, vertrieben zunächst Milizen und dann die gerade gegründete israelische Armee über 700.000 Palästinenser. Mit zahlreichen Massakern, wie dem in Deir Jassin im April 1948 verbreiteten die Milizen Terror. Hunderte Dörfer und Städte wurden zerstört. Was als »Nakba« (Katastrophe) in das kollektive Gedächtnis der Palästinenser einging, erleben die Vertriebenen und ihre Nachfahren im Gazastreifen und der Westbank heute erneut.
Mindestens 1,9 Millionen Menschen – etwa 90 Prozent der Bevölkerung – wurden im aktuellen Krieg durch die Armee vertrieben. Die meisten von ihnen mehrere Male. Im Schatten des Gaza-Feldzugs treibt das Militär zudem die Annexion der Westbank voran. Allein im Januar und Februar dieses Jahres wurden laut einem Bericht der NGO Oxfam über 40.000 Menschen vertrieben. Fast täglich kommt es zur Zerstörung von Häusern und Übergriffen gewalttätiger Siedler und Soldaten.
Der israelische Staat hat die Nakba nie offiziell anerkannt. Seine Politiker und Regierungsvertreter verwenden das damit verbundene Trauma jedoch, um den Palästinensern anhaltend zu drohen. So schrieb Ariel Kallner, Abgeordneter des regierenden Likud von Benjamin Netanjahu, am 7. Otober 2023 auf X: »Im Moment gibt es nur ein Ziel: Nakba! Eine Nakba, die die Nakba von ’48 in den Schatten stellen wird.« Im November 2023 legte Parteikollege und Landwirtschaftsminister Avi Dichter nach: »Wir führen jetzt die Gaza-Nakba aus.«

Mittlerweile hat Netanjahus Regierung die vollständige und dauerhafte Besetzung des Gazastreifens und die »Umsiedlung« seiner Bevölkerung als offizielles Kriegsziel ausgegeben. Am Dienstag kündigte der rechte Premier an, das Militär werde die Angriffe »in den nächsten Tagen« intensivieren. Zuvor hatte er bereits klargestellt: »Es wird keine Situation geben, in der wir den Krieg beenden.« Man werde »den Weg bis zum Ende gehen«. Die Luftangriffe wurden bereits in den vergangenen Tagen hochgefahren. Israelische Bomben auf zwei Krankenhäuser in Khan Junis töteten am Dienstag 28 Menschen, darunter den Journalisten Hassan Eslaiah. »Alle im Krankenhaus – Patienten wie Verwundete – rannten in Angst, einige auf Krücken, andere schrien nach ihren Kindern«, sagte der Fotojournalist Amro Tabash gegenüber AFP. Die lokale Gesundheitsbehörde meldete am Mittwoch mindestens 84 Getötete seit Mitternacht.
Während die Palästinenser nur 78 Kilometer entfernt ausgehungert werden, traf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Dienstag abend den dafür Verantwortlichen in Jerusalem. Außenminister Johann Wadephul (CDU) hatte dem wegen Kriegsverbrechen per Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof gesuchten Netanjahu bereits am Sonntag seine Aufwartung gemacht. Wadephul äußerte Verständnis für die Hungerblockade gegen Gaza, denn die Hamas instrumentalisierte Hilfslieferungen: eine Behauptung der israelischen Regierung, die von der UNO und humanitären Organisationen dementiert wird. Bundeskanzler Friedrich Merz warnte bei seiner ersten Regierungserklärung am Mittwoch im Bundestag zwar vor einer drohenden Hungersnot in Gaza und forderte »alle Beteiligten« auf, eine solche Entwicklung zu verhindern. Aber man stehe »unverbrüchlich an der Seite Israels«. Im Grunde also alles wie gehabt: Palästinenser in Gaza und der Westbank werden mit deutschen Waffen getötet.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Jehad Alshrafi/AP/dpa14.05.2025
Krankenbett wird zu Leichenbett
- IMAGO/Xinhua14.04.2025
Raketen auf Hospital
- Jehad Alshrafi/AP/dpa12.04.2025
Das Martyrium der Kinder