Der Gewinner muss gehen
Von Gisela Sonnenburg
Er kämpfte und gewann. Dann kämpfte er erneut – und verlor. Die Rede ist von Mikhail Agrest, seit 2020 Musikdirektor beim renommierten Stuttgarter Ballett. Ab 2013 dirigierte der gebürtige Sankt Petersburger, der seine Kunst unter anderem bei Mariss Jansons erlernte, Ballettaufführungen in Stuttgart. Und zwar höchst erfolgreich. Insbesondere die Wiederaufnahme von »Mayerling« von Kenneth MacMillan 2019 wurde zu einem Triumph der künstlerischen Symbiose von Tanz und Musik unter Agrests Ägide. Kaum jemand sonst erspürt die Feinheiten beim Zusammenspiel der beiden Künste so genau wie Agrest.
Doch 2021 gab es bei einer Bühnenprobe Differenzen mit dem Ballettcoach Reid Anderson. Anderson ist nun nicht irgendein Trainer, sondern eine Art graue Eminenz. Bis 2018 war der gebürtige Kanadier Intendant vom Stuttgarter Ballett, und mittlerweile wurde er durch Erbschaft zum Inhaber der Lizenzen für die Ballette von John Cranko. Dessen Choreographien studierte Anderson schon oft selbst ein. Dass ihm Agrest widersprach und unter Beifall des Orchesters an einer einzigen Stelle der Partitur ein anderes Tempo vorschlug, als Anderson es seit Jahrzehnten vorsieht, brachte den Coach in Rage. Er ließ Agrest kurzerhand rauswerfen.
Und weil Andersons Nachfolger als Ballettintendant, der in New York geborene Tamas Detrich, so etwas wie Kadavergehorsam mit Reid Anderson verbindet, erhielt Agrest nach seinem Rauswurf aus der Probe die fristlose Kündigung nebst Hausverbot (jW berichtete). So etwas geht in Deutschland rechtlich freilich nicht. Agrest zog vor Gericht und gewann. Die von ihm dann wieder als Musikdirektor im Wechsel mit dem Dirigenten Wolfgang Heinz geleiteten Ballettvorstellungen wurden stets bejubelt.
So gesehen war Mikhail Agrest rundum der Gewinner seines Zwists mit Reid Anderson. Aber wie es mit grauen Eminenzen so ist: Andersons Wille wirkt nach. Agrest wiederum leistete sich einen taktischen Fehler: Er betrieb – auch nach der Aussöhnung mit der Intendanz vom Stuttgarter Ballett – eine weitere Schadensersatzklage wegen Rufschädigung. Das nahm man ihm wohl übel. Und obwohl diese Klage nach einigem Hin und Her ergebnislos ad acta gelegt wurde, ereilte Agrest danach der Fluch des Schicksals. Tamas Detrich weigerte sich nämlich, den Vertrag seines grandiosen Musikdirektors über den jetzigen Sommer hinaus zu verlängern. Agrests Versuch, diese Kündigung gerichtlich revidieren zu lassen, scheiterte: Die an deutschen Theatern für Künstler üblichen, befristeten Jahresverträge mit dem Oberbegriff »Normalvertrag Bühne« (»NV Bühne«) scheinen unantastbar.
Der heute 76jährige Anderson kann frohlocken. Aber das Staatsorchester Stuttgart, das Stuttgarter Ballett und sein Publikum haben das Nachsehen. Sie verlieren ein Stück hohe Qualität an die Genugtuung eines alten weißen Mannes. Und Mikhail Agrest? Er lässt sich seinen Abgang mit 50.000 Euro Abfindung versüßen, wiewohl das rechtlich nicht unbedingt notwendig wäre. Aber Detrich will ihn auf Biegen und Brechen los sein und zahlt darum. Schließlich ist Agrest ein wandelndes Symbol dafür, dass die Macht von Intendanten, die wie Fürsten auf Zeit agieren, nicht endlos ist.
Am Dienstag, den 30. Juli, wird Agrest seine letzte Vorstellung beim Stuttgarter Ballett haben, mit »Romeo und Julia« von John Cranko. Die Aufführung ist ausverkauft. Danach wird Agrest als Freiberufler an internationalen Häusern dirigieren – und mit Ehefrau, Kind und Hund in Stuttgart wohnen bleiben. Ab und an wird man ihn im Publikum vom Stuttgarter Opernhaus sehen: Mikhail Agrest wird als Rezensent fürs Ballett-Journal berichten.
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