Tagtraum
Von Gisela Sonnenburg
Die Bühne ist ein nüchterner, betonfarbener Bunker. Im hinteren Drittel gibt es eine große L-förmige Öffnung, wie ein surreales Grab. Darin stehen Menschen mit dem Rücken zu uns, reglos. Weiter vorn aber beginnt ein Mann auf dem Platz wie gegen starken Wind zu gehen. Er holt weit aus mit den Armen, auch mit dem Spielbein. Und kommt nicht voran. Alle Mühen umsonst? Mit dieser getanzten Metapher beginnt die »Winterreise« von Christian Spuck, die er 2019 in Zürich kreierte und die jetzt auf dem Spielplan vom Staatsballett Berlin steht. Die Premiere am Sonntag in der Berliner Staatsoper Unter den Linden erntete großen Beifall – auch wegen der viel nacktes Bein zeigenden, so elegant wie sexy designten Kostüme von Emma Ryott.
Spuck wählte nicht das musikalische Original des Liederzyklus »Winterreise« von Franz Schubert von 1827, sondern die 1993 entstandene Bearbeitung von Hans Zender. Der übersetzte klassische Werke gnadenlos in die Moderne. Jazz und Tango, atonale Passagen und Geräuschzusätze durchdringen die Partitur. Aus der Lebensreise eines unglücklich Liebenden, dessen Seele bis zum Tod vom Weltschmerz bestimmt bleibt, wird so auch eine Reise durch die jüngere Musikgeschichte.
Die Texte, von Wilhelm Müller aus dem Jahr 1824 stammend, spiegeln verschiedenste Szenen, beginnend im Frühlingsmonat Mai: Die Liebste muss einen Reicheren heiraten, weshalb der Verschmähte auf Wanderschaft geht. Aber kein noch so schöner oder aufregender Ort kann das lyrische Ich entzücken. Denn die Wunde unerfüllter Liebe heilt nie.
In Spucks Ballett geht es nun nicht um konkrete Beziehungen. Der Tanz hat vielmehr den Pas de deux, den Paartanz, als ständiges Leitmotiv: Der Tagtraum von Liebe zwischen zwei Menschen, die dadurch zu einer Einheit verschmelzen, hört nie auf. Klassische, neoklassische und moderne Bewegungen wahren dabei stets ein hohes ästhetisches Niveau, bilden das utopische Ideal.
Emotionen werden nicht gezeigt oder gespielt. Die Bewegungen stehen für sich. Auch das restliche Ensemble und die mit seltsamen Requisiten den Raum durchschreitenden Figuren zeigen keinerlei Gefühl. Die Musik läuft – mit Windmaschine, Schlagholz und Akkordeon zu den Streichern, dem Blech und den Trommeln – dazu wie nebenbei. Es ist eine andere Welt, die man hört. Sie ist trotzig und wütend, ringt um Erfüllung.
Matthew Newlin singt die Lieder mit gleichbleibendem Kummer. Und wäre Dominic Limburg ein begabter Dirigent, so wäre der Abend vollends rund. Verpatzte Einsätze und fehlende Nuancierung machen einen hingegen traurig. Die Tanzenden sind derweil perfekt: Jede Bewegung hat Flair.
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