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Aus: Ausgabe vom 13.05.2025, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Das Theater, die gloriose Verschwendung

Zum Tod des Dramaturgen Carl Hegemann
Von Gert Hecht
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Carl Hegemann 2006 bei der Verleihung des Caroline-Neuber-Preises der Stadt Leipzig

Carl Hegemann war ein wunderlicher Marxist – und damit eine absolute Ausnahmeerscheinung im Theater, wo der deutsche Mittelstand ansonsten seine moralisch-rosa Hautfarbe zum Schaulaufen schickt. 1949 im tiefkatholischen Paderborn geboren, zog es ihn zur Frankfurter Schule. Er studierte Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main und las Hegel mit Hans-Jürgen Krahl, dem führenden Kopf des Frankfurter SDS, der 1970 bei einem Autounfall ums Leben kam. Hegemann promovierte über Johann Gottlieb Fichte und Karl Marx, »Identität und Selbst-Zerstörung« war der Titel seiner Arbeit. Für ihn war klar, dass der Materialismus von Marx, Adorno und Brecht das Erbe des deutschen Idealismus von Hegel, Fichte, Hölderlin und Schiller war.

Als Hölderlin-Marxist mit Popkulturfaible verschlug es Hegemann als Dramaturg ans Theater. Er verstand sich als Polyhistor: Alle Fragen von Gesellschaft und Theater fielen in sein Aufgabengebiet und wurden in vulkanischen Redeausbrüchen und mäandernden Essays verhandelt. Und weil der Mensch ein Mensch ist, so könnte man zusammenfassen, braucht er Räume zum Spielen, bitte sehr. Das Theater war für Hegemann ein solcher Ort, aber ihm ging es um mehr als nur ein eingemauertes Reservat für sich austobende Kleinbürger. Ihm ging es, wie seinen Mitkämpfern im Geiste von Hegel über Marx bis Adorno, um soziale Freiheit. Das Ästhetische war für ihn ein Ort, wo diese Freiheit unter den Bedingungen öffentlicher Beobachtung erprobt werden konnte.

Fast zwangsläufig landete Hegemann – nach vielen anderen Stationen – an dem Theater, das unter Frank Castorf mit dem Erproben künstlerischer Freiheit so weit ging wie keines sonst: an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Dort traf er auf geistige Wahlverwandte: auf Christoph Schlingensief, der in deutscher Öffentlichkeit in hässlichen Wunden herumstocherte; auf René Pollesch, der Boulevard- und Diskurstheater zusammenbrachte; auf Bert Neumann, der den Teer und die Bretter der Stadt auf die Bühne holte; auf Christoph Marthaler, der der spätmodernen Entfremdung die eigene Melodie vorspielte, und viele andere mehr. »Gegen die Konsenskultur!« war einer seiner Slogans. Als Castorf 2017 die Volksbühne verlassen musste, war Hegemann Chefdramaturg.

Hegemann blieb ein Unruhiger. Er unterrichtete Dramaturgie in Leipzig, arbeitete weiter als Dramaturg (wenn auch nicht fest an einem Haus) und stand zuletzt in München in Jette Steckels »Die Vaterlosen« selbst auf der Bühne. Die Erkenntnisse seines langen Dramaturgenlebens hat er in dem dicken Band »Dramaturgie des Daseins. Everyday live« festgehalten, für den auch zahlreiche Weggefährten Beiträge beisteuerten. Darin findet sich folgender, sehr kluger Satz: »Das Theater muss anstelle der katastrophischen (unfreien) Verschwendung in Kriegen und globalen alltäglichen Gewaltexzessen die gloriose Verschwendung, die freiwillige Investition in das Nutzlose und Tragische propagieren, wenn es sich legitimieren will.« Mit seinen Einsichten wird er dem Theater fehlen. Am 9. Mai ist Carl Hegemann im Alter von 76 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.

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