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Aus: Ausgabe vom 10.05.2025, Seite 12 / Thema
Regierungspolitik

Primat des Militärischen

Vorabdruck Ökonomie und Politik im Zeichen des autoritären Staatsumbau. Über die neue Lage der BRD und den Koalitionsvertrag
Von Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch
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Friedrich, fahr schon mal den Eurofighter vor. Um das Kapitalinteresse zu sichern, soll Deutschland unter der neuen Koalition wieder »Führungsmacht« werden.

Im Juni erscheint Heft 142 der Zeitschrift Z. Marxistische Erneuerung. Wir veröffentlichen daraus redaktionell gekürzt und mit freundlicher Genehmigung von Herausgebern und Autoren den Beitrag von Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch. Die Hefte von Z können bestellt werden unter: zeitschrift-marxistische-erneuerung.de (jW)

Gegenwärtig sind wir Zeugen einer sich in rasanter Geschwindigkeit vollziehenden Neudefinition der Geschäftsgrundlagen des sogenannten Westens und des transatlantischen Bündnisses. Die vom sozialdemokratischen Kanzler Scholz 2022 verkündete »Zeitenwende« hat mit dem Übergang der US-Administration von Biden zu Trump eine neue und sehr viel weitreichendere Bedeutung erlangt. Ökonomie und Politik des bundesdeutschen Kapitalismus versuchen, sich hierauf neu einzustellen. Dieser Aspekt tritt auch bei der Neubildung der »schwarz-roten« Bundesregierung im Koalitionsvertrag in den Vordergrund. Er ist das ökonomisch, politisch und – wie die Medienwirklichkeit zeigt – ideologisch übergreifende und bestimmende Moment. Aufrüstung und autoritärer Staatsumbau bei gleichzeitigem Druck auf Sozialleistungen sind die Folge.

Wirtschaft, Staat und Politik der Bundesrepublik sind heute konfrontiert mit einer im dritten Jahr krisenhaft stagnierenden Wirtschaftsentwicklung, aufgestauten inneren Problemen des – staatlich vermittelten – kapitalistischen Reproduktionsprozesses und mit »externen« Schocks, die sich aus veränderten weltwirtschaftlichen und global-politischen Konstellationen ergeben.¹

Infrastrukturkrise und Stagnation

Die exportorientierte BRD-Wirtschaft profitierte in den letzten Jahrzehnten von der Expansion der Weltwirtschaft (»Globalisierung«). Der in den Unterhalt des staatlichen Verwaltungs- und Herrschaftsapparats einschließlich Militär sowie in staatlicherseits auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene zu finanzierende Infrastruktur fließende Staatsverbrauch wurde – neoliberalen Forderungen nach einem »schlanken Staat« folgend – vergleichsweise niedrig gehalten.² Damit haben sich hohe Investitionsbedarfe im Bereich der Bildungs-, Gesundheits-, Verkehrs-, Energie-, Kommunikations- und Verwaltungsinfrastrukturen aufgestaut, zu denen zusätzlich bisher nicht berücksichtigte Infrastrukturinvestitionen zum Schutz vor Folgeschäden des Klimawandels kommen. Staat und privates Kapital sehen sich zudem mit hohen Anforderungen an die klimaverträgliche Anpassung (»Dekarbonisierung«) des Kapitalstocks konfrontiert, die ohne staatliche Vorleistungen und Subventionen nicht zu bewältigen sind. Dies betrifft auch den Bereich der klimaneutralen Sanierung von öffentlichen und privaten Gebäuden. Des Weiteren sind die gesamtgesellschaftlichen Anforderungen zu nennen, die sich aus der Digitalisierung in den Produktions-, Distributions- und Kommunikationssphären ergeben, die gleichermaßen vom Privatkapital ohne staatliche Vor- und Subventionsleistungen nicht zu realisieren sind. Im Vorfeld der Bundestagswahlen waren die sich hieraus ergebenden Anforderungen an staatliche und private Investitionen in zahlreichen Studien abgeschätzt worden, die erforderlich wären, um den stockenden Reproduktionsprozess des BRD-Kapitals wieder flottzumachen.

In den letzten Jahren hat sich das weltwirtschaftliche Umfeld, in das die BRD-Wirtschaft eingebunden ist und von dem nicht nur die Großunternehmen der Exportbranchen, sondern auch deren Zulieferer und viele exportstarke kleinere Unternehmen profitierten, deutlich verändert. Zum einen entwickelte sich die Wirtschaft aufsteigender Schwellenländer, vornehmlich Chinas, zu kapital- und technologiestarken Konkurrenten. Dies erfährt gegenwärtig die bundesdeutsche Automobilindustrie, die beim Umstieg auf E-Mobilität gegenüber der chinesischen Konkurrenz an Boden verloren hat. Die abgeschwächte Dynamik der Weltwirtschaft trifft die Exportindustrie, die vom Globalisierungsschub nach 1989/90 überproportional stark profitiert hatte, besonders intensiv. Seit 2018 geht der Wachstumseffekt des Außenbeitrags (Differenz von Aus- und Einfuhr) zurück. Dazu kommen die Folgen der Sanktionspolitik gegenüber Russland und der – jetzt unter Trump besonders ausgeprägte – Schwenk der USA zum Protektionismus mit Hochfahren der Zollschranken. Die BRD-Wirtschaft reagiert hierauf mit Forderungen nach »Standortverbesserung« durch verschiedene Formen staatlicher Förderung und Subventionierung, Steuerentlastung, nach Verminderung und zeitlicher Streckung von Klimaschutzmaßnahmen sowie nach Maßnahmen zur Reduzierung von Sozialleistungen, Lohnkosten und Deregulierung von Arbeitsverhältnissen.

Geopolitik und Aufrüstung

Die international veränderten weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisse, die sich an der Verschiebung der BIP-Anteile an der Weltwirtschaft zwischen den alten entwickelten kapitalistischen Ländern und den Schwellenländern ablesen lassen, führen zu starken »tektonischen Spannungen« in der internationalen Politik. Die zunehmende Konfrontation USA–China ist der eine Aspekt, die Bereitschaft Russlands zur offen militärischen Auseinandersetzung im Tauziehen um die Ukraine zwischen USA/EU einerseits und Russland andererseits der andere Aspekt. Russland hatte die NATO- und EU-Erweiterung nach Osten lange hingenommen, vor dem Hintergrund der verschobenen internationalen wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse, dann aber 2022 den Übergang zur militärischen Auseinandersetzung mit den NATO-Kräften gewagt.

Die USA als »überdehnte Weltmacht« verlangen schon seit längerem von ihren transatlantischen NATO-Verbündeten höhere Rüstungsaufwendungen.³ Als Schock wirkte im Februar 2025 die Ankündigung der Trump-Administration, möglicherweise ihre sogenannten Sicherheitsgarantien für die europäischen NATO-Verbündeten (Truppenstationierung, Atomschirm) zurückzuziehen. Massive Forderungen nicht nur aus der Rüstungswirtschaft zur raschen Ausweitung der Rüstungsausgaben weit über die seit 2022 erfolgten Maßnahmen (Sondervermögen von 100 Milliarden Euro) hinaus waren die Folge und brachten Mitte März mit den im alten Bundestag noch durchgesetzten drei billionenschweren Grundgesetzänderungen (Umgehung der Schuldenbremse bei Rüstungsausgaben; Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für zusätzliche Infrastruktur- und Klimainvestitionen; Verschuldungsspielraum der Länder von 0,35 Prozent des BIP) eine »historische Rüstungswende«, »die völlige Abwicklung der Finanzpolitik der vergangenen 25 Jahre« (Handelsblatt, 19.3.2025).

Der ehemalige Blackrock-Manager Friedrich Merz bilanzierte diese Wende noch als Bundeskanzler in spe mit folgenden Worten: »Unsere Vorstellung von der Welt war, von allem nur das Beste zu nehmen. Den Frieden und unsere Freiheit haben vor allem die Amerikaner gesichert, wir haben uns auf die Wirtschaft konzentriert – und die lief glänzend. Globale Märkte, billige Vorprodukte vor allem aus China, preisgünstige Energie vor allem aus Russland, Veredelung in Deutschland und dann raus in die Welt, das war das deutsche Geschäftsmodell. All das ist jetzt infrage gestellt.« (Handelsblatt, 14.4.2025)

Europäische Führungsmacht

Vor drei Jahren, kurz nach der »Zeitenwende«, erklärte der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil in einer Grundsatzrede vor der Friedrich-Ebert-Stiftung am 21. Juni 2022: »Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem.« Deutschland, so Klingbeil, müsse in einer Zeit, die von Krisen, einer instabilen internationalen Ordnung, von Krieg und unterbrochenen Lieferketten geprägt sei, zur Herausbildung einer neuen Weltordnung beitragen, die auf Machtzentren basiere. Um Europa zu einem dieser Machtzentren zu machen, müsse Deutschland »den Anspruch einer Führungsmacht haben«. Er vergaß nicht – »als Sohn eines Soldaten« – hinzuzufügen, dass für ihn »Friedenspolitik bedeutet, auch militärische Gewalt als legitimes Mittel der Politik zu sehen«.⁴ Wir zitieren das hier nur, um deutlich zu machen, wes Geistes Kind der neue Vizekanzler der BRD ist.

Die Vorstellung von Europa als internationalem Machtzentrum und Deutschland als Führungsmacht ist allerdings so neu nicht. Hier kann, aus Platzgründen, nicht an die Zeit vor der »Zurückhaltung« erinnert werden, in der territoriale Expansion, Neuaufteilung der Welt, die Schaffung »eines geschlossenen Wirtschaftsblocks von Bordeaux bis Odessa als Rückgrat Europas« auf der Tagesordnung stand, wie ihn zum Beispiel der IG-Farben-Chef Duisberg 1931 forderte und wenig später zu erobern half. In der von Klingbeil so apostrophierten Zeit der »Zurückhaltung« nach 1945 war der Imperialismus der alten BRD zwar innerkapitalistisch eingehegt – die Aufgabe der NATO bestand bekanntlich darin, »to keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down«⁵ –, zielte auf Revision der Kriegsfolgen und auf territoriale Expansion: Er war auf die »Wiedervereinigung« und damit auf den territorialen Anschluss der DDR (nach Art. 23, GG) gerichtet.⁶ Dieses Ziel, das lange Zeit unerreichbar zu sein schien, wurde 1989/1990 erreicht. Seitdem realisiert sich die Expansion der BRD-Wirtschaft und des BRD-Kapitalismus im Rahmen supranationaler Strukturen. Die EU ist entscheidender Rückhalt als wirtschaftlicher Großraum und »Heimatmarkt« der BRD-Wirtschaft, das transatlantische Bündnis und die NATO sind der militärisch-politische Bezugsrahmen – inklusive Anwendung militärischer Gewalt (natürlich als »Friedenspolitik«, bei der es sich auch um einen völkerrechtswidrigen Angriff nach Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta handeln darf wie beim Kosovo-Krieg). Zur Wirklichkeit gehört jedoch, dass diese Strukturen gegenwärtig deutlich geschwächt sind.

Nach 1989/1990 wurde Deutschland innerhalb des herrschenden Blocks wieder als Großmacht verstanden. Einer der führenden Vertreter der konservativen, neorealistischen Schule in der BRD, Hans Peter Schwarz, formulierte dies 1994 so: »Deutschland ist wieder dreierlei in einem: ein Nationalstaat, eine europäische Großmacht und die Zentralmacht Europas. Denn es gibt nur ein Land, das dank geographischer Lage, dank wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und kultureller Ausstrahlung, dank Größe, und dank immer noch vorhandener Dynamik die Aufgabe einer Zentralmacht wahrnehmen muss – und das ist eben Deutschland.«⁷

Das – so Schwarz – zur Großmacht verdammte Deutschland müsse seine ökonomisch-politischen Interessen in »Mitteleuropa« wahrnehmen, die nicht nur im Westen, sondern vor allem auch im Osten Europas lägen, also im Bereich der damaligen Osterweiterung der EU und der NATO in eben den geostrategischen Raum hinein, der im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entsprechend den Absprachen von Jalta das strategische Sicherheitsvorfeld der 1991 untergegangenen UdSSR bildete. Jüngst hat Herfried Münkler, an Schwarz anknüpfend, die »Aufgaben einer Führungsmacht in der EU«⁸ umrissen: Sie müsse erstens für deren Zusammenhalt sorgen und den Beitritt weiterer Staaten zur EU ermöglichen (um Einflussgewinn Russlands oder Chinas auf dem Balkan zu verhindern). Sie müsse zweitens »die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Europa in einer multipolaren Welt handlungsfähig ist und seine Interessen gegen andere große Akteure zur Geltung bringen kann«. Und sie werde drittens »bei einem Rückzug der USA aus der NATO – oder zumindest aus der Position der NATO-Führungsmacht – einen Teil dieser Führung übernehmen müssen. Es geht somit um Führung im politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bereich«. Soweit die ökonomisch-politische Konstellation, in die sich Friedrich Merz und Lars Klingbeil gestellt sehen und auf die im Koalitionsvertrag reagiert werden soll.

Auf die oben skizzierten strukturellen Herausforderungen für den deutschen Kapitalismus kann unterschiedlich reagiert werden, es gibt keine Sachzwänge. Die von den dominierenden politischen und ökonomischen Kräften aktuell verfolgte Strategie läuft auf eine autoritäre Herrschaftsform hinaus, bei der die Verzahnung von politischen und ökonomischen Faktoren im Mittelpunkt steht. Priorität hat die Herstellung von »Kriegstüchtigkeit«. Dabei geht es nicht nur um die Bundeswehr. In den verteidigungspolitischen Richtlinien von 2023 heißt es: »Bedingung erfolgreicher Gesamtverteidigung ist die Verzahnung aller relevanten Akteure bereits im Frieden: Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.« Der Vorrang des Militärischen wird nicht nur sicherheitspolitisch begründet. Nur ein militärisch handlungsfähiges und handlungsbereites Deutschland kann internationale Führungsmacht sein. Diese Prioritäten spiegeln der »schwarz-rote« Koalitionsvertrag (KV) einerseits und der Zwischenbericht der »Initiative für einen handlungsfähigen Staat« andererseits wider, auf den der KV in zentralen Teilen Bezug nimmt.

Staatsverschuldung

Vordergründig engagierten sich die Eigentumsparteien – besonders vehement FDP und CDU/CSU – im Wahlkampf für die Beibehaltung der Schuldenbremse und eine Austeritätspolitik nach neoliberalem Muster: Das nicht umsonst »Agenda 2030« betitelte Wirtschaftsprogramm der CDU formulierte: »Die Ampel, das war ein permanentes Schlechtreden der grundgesetzlichen Schuldenbremse und eine Haushaltspolitik geprägt durch Tricksereien und Chaos. Wir wissen, dass nur seriöses Haushalten vor einer Neuauflage der Euro-Schuldenkrise und den Steuererhöhungen von morgen schützt.« Dem Wähler wurde »solide Haushaltspolitik« versprochen, obwohl längst klar war, dass eine massive Steigerung der Staatsverschuldung unumgänglich ist.

Dem KV zufolge soll eine Expertenkommission eingesetzt werden, die Vorschläge für eine »Modernisierung der Schuldenbremse« erarbeitet (KV, 1613–1616). Tatsächlich wurden die entscheidenden Pflöcke schon am 18. (im Bundestag) bzw. am 21. März (im Bundesrat) eingeschlagen, als die Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse ausgenommen und ein »Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaneutralität« (KV, 1648) geschaffen wurden.

Die entsprechende Grundgesetzänderung hat es in sich. In Artikel 109 GG heißt es jetzt: »Von den zu berücksichtigenden Einnahmen aus Krediten ist der Betrag abzuziehen, um den die Verteidigungsausgaben, die Ausgaben des Bundes für den Zivil- und Bevölkerungsschutz sowie für die Nachrichtendienste, für den Schutz der informationstechnischen Systeme und für die Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten 1 vom hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt übersteigen.« Die auf Druck der Grünen durchgesetzte Erweiterung der Ausnahmeregelung auf zivile Einrichtungen ist insofern bemerkenswert, als damit schon vor der Regierungsbildung die Aufhebung der Trennung zwischen militärischen und zivilen Bereichen, das heißt die Militarisierung der Gesellschaft, vorweggenommen wurde. Hinzu kommt, dass nun auch die Länder Kredite im Umfang von bis zu 0,35 Prozent des BIP aufnehmen dürfen, was in der bisherigen Fassung der Schuldenbremse unzulässig war.

Wie hoch die mit den Neuregelungen verbundene zusätzliche Staatsverschuldung ausfallen wird, ist bislang unklar. Bezogen auf die Verteidigungsausgaben dürften diese nach dem Aufbrauchen des Sondervermögens Bundeswehr – geht man von einer Erhöhung des Verteidigungsetats auf 3,5 Prozent des BIP aus – jährliche kreditfinanzierte Zusatzausgaben von mindestens 120 Milliarden Euro bedeuten. Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, nimmt an, dass allein die beschlossene Ausnahmeregel die jährlich zulässige staatliche Kreditaufnahme von derzeit 15 auf mindestens 173 Milliarden erhöhen würde.

Dagegen nimmt sich das mit 500 Milliarden Euro (auf zwölf Jahre) konzipierte Sondervermögen Infrastruktur eher bescheiden aus – es würde eine zusätzliche jährliche Kreditaufnahme von gut 40 Milliarden beinhalten. Davon sollen 100 Milliarden an Länder und Gemeinden fließen, weitere 100 an den Klima- und Transformationsfonds. Dies liegt weit unter allen festgestellten Bedarfen. Allein der kommunale »Investitionsstau« wurde 2024 auf 186 Milliarden geschätzt – nach jetziger Lage dürften die Kommunen aber (in den nächsten zwölf Jahren) bestenfalls mit 50 Milliarden am neuen Sondervermögen partizipieren.

Außerdem werden die durch Kreditaufnahme zu mobilisierenden Mittel des Sondervermögens überwiegend in jene Bereiche fließen, die militärisch relevant sind. Der Gesetzentwurf von SPD und CDU/CSU formuliert: »Die tatsächliche Fähigkeit, ein deutlich gesteigertes Verteidigungspotential auch zur Wirkung zu bringen, setzt die Verfügbarkeit einer ausgebauten, funktionsfähigen und modernen Infrastruktur, z. B. im Verkehrsbereich, voraus.« Das Deutsche Institut für Urbanistik schätzt den Investitionsbedarf für den Erhalt und die Erweiterung von Schienen und Straßen in den Kommunen auf 372 Milliarden Euro (bis 2030). Die Bahn meldet einen Investitionsbedarf von 150 Milliarden bis 2034 an. Der europäische Dachverband Transport and Environment beziffert die Kosten allein der Sanierung von Autobahnbrücken auf 100 Milliarden Euro. Der ehemalige Bundesverkehrsminister Wissing stellt fest: »Das Sondervermögen löst nicht alle Infrastrukturprobleme, dafür ist es nicht groß genug.« (FAZ, 29.4.2025) Angesichts der Priorität für militärische Aufgaben – Deutschland als militärische »Drehscheibe« der NATO – wird für soziale Infrastrukturen kaum etwas übrigbleiben. Die Umgehung der Schuldenbremse durch Ausnahmen und Sondervermögen ist weniger einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel zuzuschreiben als vielmehr der politischen Entscheidung, die Militarisierung des Landes in den Vordergrund zu stellen. Die Hoffnungen der Gewerkschaften auf bessere Schulen und Krankenhäuser⁹ dürften sich angesichts dieser Zahlen kaum erfüllen.

Strukturelle Umorientierung

Dass die strukturellen Veränderungen und die im KV angekündigte Steigerung des »Potentialwachstums (…) auf deutlich über ein Prozent« (KV, 89) eine Beschleunigung der privaten Investitionstätigkeit erfordern, ist Konsens. Im Wahlkampf standen sich scheinbar zwei Positionen gegenüber: Während die Eigentumsparteien eine flächendeckende steuerliche Entlastung des Kapitals befürworteten und auf die Anpassungsfähigkeit marktwirtschaftlicher Prozesse verwiesen, setzten SPD und Grüne, aber auch einige Unternehmensverbände auf gezielte Industriepolitik, um mit der Transformation verbundene Kapitalvernichtungsprozesse abzufedern und Zukunftsindustrien zu fördern. Jens Spahn sprach nach den Wahlen von der Notwendigkeit einer »marktwirtschaftlichen Industriepolitik« (FAZ, 18.4.2025). Der KV verkündet einen »Investitionsbooster« (1430) in Gestalt einer degressiven Abschreibung auf Ausrüstungsinvestitionen in Höhe von 30 Prozent. Für die Jahre 2025, 2026 und 2027 ist dies mit erheblichen Steuereinsparungen für alle investierenden Unternehmen verbunden, womit die Steuerlast allerdings nur in die Zukunft verschoben wird. Ab 2028 soll daher die Körperschaftsteuer auf Gewinne von Kapitalgesellschaften (derzeit 15 Prozent) in fünf Schritten um jeweils ein Prozent reduziert werden.

Vorhaben zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit tauchen an vielen Stellen auf. So heißt es ganz am Anfang unter der Überschrift »Investitionsoffensive«: »Wir werden einen Deutschlandfonds einrichten. Dieser ist das Dach, unter dem wir die Kraft der privaten Finanzmärkte mit dem langfristig strategischen Vorgehen des Investors Staat verbinden. (…) Die konkreten Investmententscheidungen werden in einer unternehmerischen Governance getroffen (…)« (KV, 112/113). Das Papier der »Initiative für einen handlungsfähigen Staat« präzisiert das Verhältnis zwischen Privatwirtschaft und Staat folgendermaßen: »Der Staat übernimmt die Rolle eines strategischen Auftraggebers und Investors.« Sowohl dort als auch im KV wird das klassische Instrumentarium staatlicher Industriepolitik präsentiert: Vom »Strompreispaket«, mit dem »wettbewerbsfähige Energiepreise für die Industrie« gewährleistet werden sollen (KV, 136/137) über die gezielte Stützung bedrohter Industrien (Stahlindustrie, 170; Automobilindustrie, 196), klassische Industriesubventionen (272), Unterstützung beim Transfer von Forschung in die industrielle Anwendung (KV, 2555) bis hin zu »strategischen staatlichen Beteiligungen im Rüstungsbereich und im Energiesektor« (KV, 1749). Im gesamten industriellen Anpassungsprozess kommt der Staat den Industrieinteressen nach und gibt die Richtung vor.

Anmerkungen

1 Wir knüpfen hier an unseren Beitrag »Kapitalstrategien nach der Ampel« (Z 141, März 2025, S. 23–39) an.

2 Der Staatsverbrauch (Staatsquote abzüglich Sozialleistungsquote) lag Anfang der 1990er Jahre (vereinigungsbedingt) deutlich über 21 Prozent, 2010 und 2020 deutlich unter 18 Prozent des BIP. Vgl. IAQ-Datensammlung unter sozialpolitik-aktuell.de.

3 Der jüngste SIPRI-Bericht weist eine Steigerung der Rüstungsausgaben in Westeuropa von 2023 auf 2024 um 14 Prozent, der BRD um 28 Prozent aus. 2024 hatte die BRD demnach die vierthöchsten Rüstungsausgaben weltweit. Xiao Liang u. a.: Trends in World Military Expenditure, 2024. SIPRI Fact Sheet, April 2025, 2, 8f.

4 Rede am 21.06.2022 in Berlin, siehe https://vorwaerts.de/international/klingbeil-deutschland-muss-den-anspruch-einer-fuhrungsmacht-haben.

5 So die berühmte Formel des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Hastings Lionel Ismay.

6 Während die DDR die Oder-Neiße-Grenze 1950 anerkannt hatte, erfolgte dies seitens der BRD erst zwanzig Jahre später, 1970, im »Warschauer Vertrag« (und unter Vorbehalt).

7 Hans Peter Schwarz: Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Bühne der Weltpolitik. Berlin 1994, S. 8.

8 Herfried Münkler: Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Berlin 2025, S. 395.

9 Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi schrieb am 14.3.2025: »Gut so! Die Einigung bringt ein Sondervermögen für die Modernisierung unserer Infrastruktur, Bildung oder auch Krankenhäuser auf den Weg.«

Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch schrieben an dieser Stelle zuletzt am 19. und 20. Februar 2025 über Kapitalstrategien nach der Ampel: »Flucht nach vorn« und »In der Liz-Truss-Falle«.

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