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Aus: Ausgabe vom 08.05.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Heißer Typ am Spieß

In der Hitze Marseilles passieren schlimme Dinge: Noémie Merlants Film »Balconettes« im Kino
Von Ronald Kohl
Photo 1-LES FEMMES AU BALCON_© 2024 PROGRESS Filmverleih Nord-Ou
Wer wird das Rennen machen?

Es ist schon sehenswert, was nach 70 Jahren, in denen wir die Erderwärmung, Me too, Corona und eine »Ausweitung der Kampfzone« erlebt haben, aus einem Hollywoodklassiker gemacht wurde. Als Alfred Hitchcock 1954 »Ein Fenster zum Hof« drehte, nutzte er die literarische Vorlage von Cornell Woolrich, der nebenbei bemerkt als homosexueller Mann lange Zeit gemeinsam mit seiner Mutter in dem New Yorker Hotel »Marseilles« lebte. Das Drehbuch für Hitchcock schrieb John Michael Hayes. Und die Hauptrolle spielte James Stewart. Heut heißt es: Selbst ist die Frau.

Regisseurin Noémie Merlant kam die Idee zu »Balconettes« während des Lockdowns. Sie hatte sich gerade aus einer Beziehung verabschiedet und lebte genau wie Elise, die sie in »Balconettes«, ihrem zweiten Regiewerk, verkörpert, in einer Gemeinschaft ohne Männer. Brüste waren auf einmal nur noch Brüste, und wenn eine Frau sie von der Sonne bescheinen lassen wollte: warum nicht?

Der Film, der während einer Hitzeperiode in Marseille spielt, beginnt mit einem der krassesten Bilder von Unfreiheit: einer farbigen Hausfrau, die von ihrem weißen Ehemann übel zugerichtet wird. Der Weg aus der Tyrannei führt hier nur über das Kehrblech – von hinten mit aller Wucht auf Papas Glatze gedroschen.

Auch Elise bricht gleich zu Beginn aus ihrer Rolle aus, buchstäblich. In einem hautengen roten Kleid, mit High Heels und platinblonder Perücke rauscht sie ins Bild. Sie hat spontan die Dreharbeiten zu einem Film über Marilyn Monroe abgebrochen, ist unerlaubterweise in den Sportwagen des Produzenten gehüpft und nonstop von Paris bis Marseille durchgebrettert. Fahren kann sie. Aber nicht einparken. Der Wagen, den sie dabei demoliert, gehört dem geheimnisvollen Mann von gegenüber.

Schon seit Tagen beobachtet ihn Nicole (Sanda Codreanu), die sich mit Elise und einer dritten Freundin, dem Camgirl Ruby (Souheila Yacoub), die Wohnung teilt. So wie der von James Stewart gespielte L. B. »Jeff« Jefferies als Fotojournalist, der mit einem Gipsbein im Rollstuhl sitzt, in Hitchcocks Film die gegenüberliegende Wohnung beobachten »darf«, wird auch Nicole auf ihrem Balkon als angehender Schriftstellerin ein gewisser Voyeurismus gestattet. Doch abgesehen vom künstlerischen Interesse scheint der Kerl gegenüber sie auch scharfzumachen. Nachdem eine von den drei Damen der WG nun dessen amerikanischen Wagen angebumst hat, ist der Kontakt hergestellt, und Ruby, Elise und Nicole werden auf einen Drink in seine Wohnung eingeladen. Welche von ihnen wird am Ende seinen Schwanz bekommen? Wird Ruby das Rennen machen, der man ihren Job als Camgirl sofort ansieht? Oder Elise, die noch immer wie die Wiedergeburt von Marilyn Monroe durch die Nacht wackelt? Oder doch die nicht ganz so attraktive, dafür aber sehr romantisch veranlagte Nicole?

Nicoles Dilemma hat Michel Houellebecq bezüglich einer Sekretärin in »Ausweitung der Kampfzone« sehr direkt beschrieben: »Einen überflüssigen Schwanz kann man abschneiden. Aber was tun mit einem Loch, das niemand stopfen möchte?«

Als die drei Freundinnen spätabends die Wohnung des heißen Typen betreten, warten schon jede Menge gekühlte Drinks auf sie, besonders auf Ruby. Nicole checkt, dass sie chancenlos ist, und macht sich bald gemeinsam mit Elise, die ohne Marilyn-Perücke ziemlich gerupft aussieht, auf den Heimweg. Erst im Morgengrauen taucht Ruby dann endlich wieder daheim auf. Ihr Blick ist wirr, und überall an ihrer spärlichen Bekleidung klebt Blut. Nicole, die sich um sie kümmert, hält plötzlich einen abgetrennten Pimmel in den Händen. Um das Ding zurückzubringen und auch um zu ergründen, was da drüben passiert ist, gehen sie zurück in die Wohnung. Als erstes heben sie den jungen Mann von dem Stativ herunter, auf das er nachts gestürzt sein muss. Das Ding hat ihn in der Manier eines Schaschlikspießes regelrecht durchbohrt. Die Freundinnen blicken durch das riesige Loch in seinem Bauch und sehen, dass Ruby mächtig in der Patsche sitzt.

»Das Fenster zum Hof« endete damals damit, dass »Jeff« Jeffries zwar einen Mord aufklären konnte, vor dem Eintreffen der Polizei jedoch von dem Mann von gegenüber aus dem Fenster gestoßen wurde. Damit hatte er am Ende also niemanden mehr, den er beobachten konnte, und statt eines eingegipsten Beines derer gleich zwei. Da sind unsere Balconettes schon um einiges cleverer.

»Balconettes«, Regie: Noémie ­Merlant, Frankreich 2024, 103 Min., Kinostart: heute

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