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Aus: Ausgabe vom 08.05.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Die Leserin

Der Gewinner des Goldenen Bären: »Träume«, der Abschlussfilm von Dag Johan Haugeruds Oslo-Trilogie
Von Holger Römers
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Veränderungen des Zwischenmenschlichen, die Digitaltechnik beiläufig bewirkt

Im Spielfilm »Oslo Stories: Träume« ist alles eine Frage der Perspektive. Nach Lektüre des Buches, das die jugendliche Protagonistin Johanne (Ella Øverbye) über ihre erste Liebe verfasst hat, gibt deren ehemalige Lehrerin Johanna (Selome Emnetu) pikiert zu Protokoll: »Es war, als würde ich nur durch ihre Perspektive existieren.« Die späte Dialogszene, in der die Bemerkung fällt, scheint dem Kinopublikum dagegen einen »objektiven« Blick auf diese Frau zu gewähren – jedenfalls unter Gesichtspunkten filmischer Form: Johanne ist beim Gespräch in einem Café, das ihre alleinerziehende Mutter Kristin (Ane Dahl Torp) initiiert hat, nicht anwesend. Derweil verstummen auch die Off-Kommentare der Schülerin, die der Erzählperspektive zuvor in allen Szenen, in denen Johanna zu sehen war, unverkennbare Subjektivität verliehen haben.

Um so mehr überrascht, dass Johanne trotzdem unvermittelt einer Aussage Johannas widerspricht und damit sogar ein Einfrieren des Filmbilds bewirkt. Wenn die Ich-Erzählerin in dem Moment nicht nur allwissend erscheint, sondern ihr Liebesobjekt namentlich aus dem Off adressiert, wird endgültig klar, dass der Wandel der Erzählperspektive keiner strengen Logik folgt. Solche Widersprüche machen aber um so subtiler bewusst, welcher Reiz sich beim Betrachten eines Films aus wohldosierten Mehrdeutigkeiten ergeben kann. Dass dasselbe für das Lesen eines Buchs sowie für dessen Schreiben gilt, ist indes ein zentrales Thema von »Träume«.

Regisseur und Drehbuchautor Dag Johan Haugerud lässt die Protagonistin schon im ersten Dialog ihren Lesehunger erwähnen. »Ich lese, um zu mir selbst zu finden«, bekundet sie, als der beiläufige Wortwechsel in einen Monolog übergeht, der mit einem Jahr Abstand ihre Verliebtheit Revue passieren lässt. »Ich dachte, wenn ich jedes Detail genau beschreibe, kann ich es in etwas Handfestes verwandeln«, nennt Johanne als Motiv, weshalb sie das Erlebnis der eigenen ersten Liebe zu Text verarbeitet hat. Mit dem Wunsch, das Manuskript am eigenen Körper tragen zu können, erklärt die Siebzehnjährige wiederum ihre Entscheidung, die Datei nicht in einer Cloud, sondern auf einem USB-Stick zu speichern. So streut Haugerud, wie schon in »Liebe«, differenzierte Kommentare zu den Veränderungen des Persönlichen und Zwischenmenschlichen ein, die Digitaltechnik beiläufig bewirkt. Wenn Johanne moniert, dass ihre Mutter den Besitz eines Ferienhauses nicht als Zeichen von Wohlstand betrachte, setzt sich zudem die Reflexion der blinden Flecken der liberalen Mittelschicht fort, der auch die Hauptfiguren dieses Films angehören. Ähnliches gilt für Beobachtungen, die die Protagonistin zur sozialen Gliederung des Stadtraums macht, während sie auf dem Weg zum schicken Hochhausneubau, in dem Johanna wohnt, ein Migrantenviertel durchquert.

Sobald Johanne ihren Text der Großmutter Karin (Anne Marit Jacobsen) zum Lesen überlassen hat, steht dessen Tatsachenbezug zur Diskussion. Bei wiederholter Lektüre glaubt Kristin zunächst, mit dem Zeugnis eines Missbrauchs konfrontiert zu sein, dann mit einem »kleinen feministischen Juwel«. Karin, die selbst Dichterin ist, hebt dagegen die angewandten literarischen Mittel hervor – deren souveräne Handhabung allmählich ihren Neid weckt.

Da das Kinopublikum kein Wort aus dem Manuskript zu hören bekommt, wird es seinerseits zum Hinterfragen jener Rückblenden angeregt, die ausschnitthaft einen Eindruck von Johannes Beziehung zu Johanna vermitteln. Dabei stiftet Cecilie Semecs Handkamera so intime Nähe, dass den Texturen von Kleidung, Haut und Haar stets größere Bedeutung zukommt als etwaigen Dialogfetzen, die zwischen Off-Kommentaren oder Anna Bergs nahezu hymnischer Musik erklingen. Dagegen sind die Diskussionen übers Manuskript großteils mit fester Kamera eingefangenen und vergleichsweise konventionell montiert. So deutet sich eine abgeklärte Reife an, deren Kontrast dem jugendlichen Ungestüm erst Resonanz verleiht. Die hallt freilich um so mehr nach, da der sechzigjährige norwegische Filmemacher, trotz Anflügen zarter Ironie, deprimierenden Schlussfolgerungen nicht ausweichen will. In jedem Fall lässt er Karin seufzen: »Ich wünschte, ich hätte mehr gelebt.«

»Oslo Stories: Träume«, Regie: Dag Johan Haugerud, Norwegen 2024, 110 Min., Kinostart: heute

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