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Aus: Ausgabe vom 08.05.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

»Ja, wir haben nicht aufgegeben«

Erinnerungen an den russischen Schriftsteller Daniil Granin
Von Irmtraud Gutschke
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Dem Autor zu Ehren: Statue Daniil Granins in St. Petersburg

Bei seiner Rede im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2014 mögen auch Abgeordnete dabei gewesen sein, die heute noch diesem Gremium angehören. Auf bewegende Weise berichtete Daniil Granin von der Belagerung seiner Heimatstadt Leningrad vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, die fast drei Millionen Menschen im Würgegriff hielt. »Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft hatte, konnte es den Deutschen lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun.« Man hat die Bevölkerung der Sowjetunion als »Untermenschen« angesehen, »für die die völkerrechtlichen Regeln der Haager Landkriegsordnung nicht gelten würden«.

Aberwitziger Vorschlag

Am 4. Juli 2017 ist Daniil Granin gestorben. Dass er die russische Militäroperation in der Ukraine kritisch gesehen hätte, lässt sich an vielen Äußerungen ablesen. Aber wie erst würde ihn der nun aufkommende Russenhass in Deutschland erschrecken. Zu Zeiten des Kalten Krieges gerade im Westen genährt, scheint er dort seit Nazizeiten fortzubestehen. Hass und Furcht. Schon werden Kriegsszenarien in die Welt gesetzt, falls es in der Ukraine einen »Siegfrieden« für Russland geben sollte. Aufrüstung um den Preis inneren Friedens. Werden die Waffen gar danach rufen, eingesetzt zu werden.

Wie schmerzlich hätte er auf die Empfehlungen des Auswärtigen Amtes reagiert, zum 80. Jahrestag der Befreiung vom Naziterror offizielle Vertreter aus Russland und Belarus von Gedenkveranstaltungen auszuschließen! Was für ein Skandal und wie peinlich: Als ob der Nachfolgestaat des Hitlerregimes, das 14 Millionen sowjetische Zivilisten ermordete, nun moralische Revanche üben wollte. Zukunftsbangigkeit und gegenwärtiges Unbehagen: Fast völlig gecancelt ist die russische Kultur. Russisches auf dem deutschen Buchmarkt muss man schon mit der Lupe suchen. Auch Granin, lebte er noch, wäre davon betroffen.

Beginnend mit dem Roman »Bahnbrecher« (1955) und »Dem Gewitter entgegen« (1963), sind Bücher von ihm immerhin noch antiquarisch zu haben: »Unser Bataillonskommandeur« (1970), die Reisebilder »Garten der Steine« (1973), die Erzählung »Der Namensvetter« (1977), die Romane »Das Gemälde« (1981), »Sie nannten ihn Ur« (1988), »Das Jahrhundert der Angst« (1999) »Peter der Große« (2001), »Mein Leutnant« (2015). Sein zweibändiges »Blockadebuch« (1977, 1981), das er mit dem belarussischen Schriftsteller Ales Adamowitsch schrieb, scheint ihn heute besonders zu charakterisieren. Aber er tastete sich nur mühsam wieder an dieses schmerzliche Thema heran. War erst einmal Frieden, sollte »das lichte Gesellschaftsideal« gelten, von dem die russische Literatur immer beherrscht war. Und dazu brauche es Menschen, »die in ihrer Arbeit leistungsstark sind, die zu wirtschaften verstehen, ihre Zeit rational einsetzen, ihre Energie und ihr Talent ausschöpfen«. Das sagte er in einem Interview, das ich 1983 mit ihm führte. Und mir fällt ein aberwitziger Vorschlag ein, den er später in der Literatur­naja Gaseta machte: Leute, die einer monotonen, schweren, aber wichtigen Arbeit nachgehen, sollten besser entlohnt werden als solche, die aus ihrem schöpferischen Tun Befriedigung schöpfen können.

Rätselhafte Schicksale

Wie es in der sowjetischen Literatur üblich war, hatte er eine moralische Richtschnur, doch wollte er seine Leser auch ins Grübeln versetzen, so wie er schreibend »verschiedene Wertungsvarianten gegeneinander abwägt und keine einschichtige Wahrheit erwartet«. Fragen an sich selbst, Gewissensbisse – und keine einfachen Antworten. »Im Krieg, da gab es ein Ziel, mochte es auch fern sein, da gab es den eindeutigen Weg zum Sieg, den Weg nach Berlin. Wohin aber führten mich die Ereignisse nach dem Krieg?« So heißt es in der Novelle »Die Spur ist sichtbar noch«, die mich jetzt wieder so gepackt hat wie ehedem.

Rätselhafte Schicksale zogen ihn an wie im Roman »Sie nannten ihn Ur«, Bemühen und Scheitern wie in »Das Gemälde«, wo ein redlicher Bürgermeister in mehrfacher Hinsicht auf Widerstände stößt. »Zweifeln – das ist, was mir wichtig war«, sagte er 1995 zu mir. Das betraf sein ganzes Werk und schließlich auch sein Grunderlebnis: den Krieg, in dem er »echte Angst und Schrecken erfuhr und zu einem Offizier wurde, der das Koppel straffzog«. Von diesem Kriegs-Ich handelt sein letzter Roman »Mein Leutnant«, vom Zwang, »Leute zu verheizen«. Mit dem höflich-freundlichen Gustav von Etter trifft er zusammen, der am selben Frontabschnitt auf deutscher Seite stationiert war. »Ihnen war klar, dass sie eine Stadt verhungern ließen«, sagte Granins Frau Rimma. Gustav: »Natürlich war Leningrad nicht gerade die ehrenhafteste Operation.« Und dann wagt er noch zu bemerken, dass andere Städte den Deutschen die Tore geöffnet hätten. »Ja, wir haben nicht aufgegeben«, denkt der Autor, »wir wussten, mit wem wir es zu tun hatten.«

An der Kaffeetafel

Wie oft habe ich Granin getroffen, und immer verblüffte er mich. Ehe ich Fragen stellen konnte, die er in aller Aufrichtigkeit beantwortete, wollte er von mir eine ganze Menge wissen: Was ich in jüngster Zeit erlebt hätte, wie ich dies und das einschätzen würde. Ernsthaft, nicht nur aus Höflichkeit – er wollte die andere Meinung. Denn um »die Wahrheit ohne Retusche oder Übertreibungen« war es ihm zu tun. Das war schon so bei unserem ersten Gespräch, das ich, ganz jung noch, 1972 bei einem FDJ-Festival der Freundschaft in Leningrad führte. Unbedingt wollte ich ihn treffen, doch ich erfuhr, dass er nicht in seiner Wohnung, sondern in seinem Sommerhaus in Komarowo sei. Ich erinnere mich an eine Fahrt mit der »Elektritschka«, einen langen Weg durch den Wald, einen überaus freundlichen Empfang an der Kaffeetafel und viele Erkundigungen nach dem Leben in der DDR. Das Interview selbst habe ich nicht mehr. Doch tiefer noch eingegraben hat sich mir ein Erlebnis im Vorortzug. Ein alter, bärtiger Mann fragte, wo ich herkomme. Aus Berlin, sagte ich. »Aus Deutschland also«, sagte er. »Hungern Sie da?« – »Aber nein!« (Wie mich seine Frage erstaunte, ist mir heute noch peinlich.) »Das ist gut«, antwortete er.

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