Gaza vor dem Kollaps
Von Gerrit Hoekman
Der Gazakrieg geht erbarmungslos weiter. Bei zwei israelischen Luftangriffen auf die Karama-Schule in Tuffah, einem Stadtteil von Gaza-Stadt, sollen nach lokalen Angaben am Mittwoch mindestens 13 Menschen getötet worden sein. In der Schule hielten sich Vertriebene auf. Auch der Reporter Nour Abdu soll sich unter den Opfern befinden. Später am Tag wurden bei einem Angriff in der Nähe eines Restaurants und eines Marktes in der Stadt mindestens 23 Menschen getötet, darunter auch Frauen und Kinder, wie Mediziner mitteilten. In Rafah sollen nach Augenzeugenberichten Soldaten weiterhin mutwillig Wohnhäuser und andere Gebäude zerstören. Israel macht keinen Hehl mehr daraus, Gaza unbewohnbar zu machen – und die zwei Millionen Bewohner zu vertreiben. Wohin auch immer.
Seit zwei Monaten lässt Israel keine Hilfsgüter mehr in den Küstenstreifen. Die humanitäre Lage ist katastrophal. Kinder sterben an Unterernährung. Unter diesen Umständen bricht allmählich die sogenannte staatliche Ordnung zusammen. Die Zahl der Diebstähle und Angriffe auf Polizeikräfte hat stark zugenommen. Solche Nachrichten sind neu. Bis jetzt haben die Palästinenser die unmenschlichen Zustände mit großer Würde ertragen. Aber nun scheinen Hunger und bittere Armut die Skrupel allmählich zu besiegen.
Vergangene Woche sollen Banden Lebensmittelgeschäfte und Gemeinschaftsküchen überfallen haben, erfuhr Reuters am Wochenende aus dem Umfeld der Hamas. Das ägyptische Internetmagazin Mada Masr berichtete am Dienstag, dass auch Lagerhallen von Hilfsprojekten leergeräumt worden seien. Fast 30 Personen sollen das »Mövenpick-Hotel« gestürmt haben, nachdem sich das Sicherheitspersonal ergeben habe. Mada Masr spricht von einem größeren sozialen Zusammenbruch. Auf den Israel anscheinend systematisch hinarbeitet.
Der Angriff auf das Hotel im Norden Gazas galt demnach Lebensmitteln, die wohl für eine Suppenküche gedacht waren. Als sich immer mehr Menschen aus der Nachbarschaft anschlossen, sei auch in andere Räume des Hotels eingebrochen worden. Inventar und Kabel wurden mitgenommen. In Gaza-Stadt hätten Täter ebenfalls einer Gemeinschaftsküche die Lebensmittel geklaut. Umstehende konnten die Räuber schließlich vertreiben und wenigstens einen Teil der Vorräte retten. Stunden später sei die Küche durch einen israelischen Luftangriff zerstört worden. Zwei Freiwillige starben.
»Sie stehlen nicht nur Lebensmittel, sondern halten auch Menschen auf der Straße an und nehmen ihnen Geld und Handys ab«, erzählte ein Einwohner Gazas im Chat mit Reuters. Er glaubt, dass Israel die Plünderer anstachele. »Sie unterstützen die Besatzung dabei, uns auszuhungern; wir müssen sie als Kollaborateure behandeln.« Dieser Meinung ist auch die Hamas. Ihr zufolge soll ein palästinensischer Polizist von einer israelischen Drohne getötet worden sein, als er und sein Kollege mutmaßliche Kriminelle verfolgt hätten.
Mada Masr schreibt unter Berufung auf Augenzeugen, dass am Wochenende israelische Kräfte aus der Luft beobachtet hätten, wie eine Menschengruppe in ein Einkaufszentrum in Gaza-Stadt eindringen wollte. Der Besitzer habe das Gebäude aber schwer bewachen lassen, was die Angreifer abschreckte. Darauf hätten israelische Flugzeuge das Einkaufszentrum beschossen, wobei eine unbekannte Zahl an Bewachern umgekommen sei. Die Plünderer nutzten die freie Bahn und nahmen anscheinend alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Israelische Drohnen hätten unterdessen auf Einsatzkräfte gefeuert, die den Raub verhindern wollten.
Die Hamas will nun offenbar kurzen Prozess machen. Die ihr nahestehende Nachrichtenagentur SAFA teilte mit, die Organisation habe eine 5.000 Mann starke Truppe gebildet, um den Plünderern das Handwerk zu legen. Reuters berichtete, die Hamas habe nach eigenen Angaben bereits mehrere mutmaßliche Plünderer hinrichten lassen. »Wir werden all diese Abtrünnigen mit eiserner Faust bekämpfen und die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um sie abzuschrecken, koste es, was es wolle«, zitierte die Nachrichtenagentur eine Bekanntmachung der Hamas vom Sonnabend. »Wir werden nicht zulassen, dass sie weiterhin Bürger terrorisieren, ihr Leben bedrohen und ihr Eigentum stehlen.« Zu den Maßnahmen gehört auch eine nächtliche Ausgangssperre, die von den Kassam-Brigaden, dem bewaffneten Arm der Hamas, verhängt wurde.
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