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Aus: Ausgabe vom 02.05.2025, Seite 6 / Ausland
Kenia

Schweigen ist nicht möglich

Kenia: Doku arbeitet tödliche Proteste von 2024 auf – Regierung noch weit davon entfernt
Von Sven Kurz, Nairobi
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Ohne Rücksicht gingen Einsatzkräfte im vergangenen Jahr gegen die Protestierenden vor (Nairobi, 8.8.2024)

Am 25. Juni 2024 brannte in Kenias Hauptstadt Nairobi nicht nur der Sitz des Parlaments – ein ganzes System geriet ins Wanken. Tausende Demonstranten stürmten das Gebäude, setzten Teile in Brand. Die Polizei schlug brutal zurück. Mindestens 39 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt, viele direkt vor den Augen der Öffentlichkeit. Ein Jahr später wirkt die Regierung von Präsident William Ruto angeschlagen. Damals hatte er unter dem Druck der Straße das umstrittene Finanzgesetz 2024 gestoppt. Der neue Entwurf, die Finance Bill 2025, wurde zunächst wie ein Staatsgeheimnis behandelt.

Erst jetzt ist die neue Gesetzesvorlage öffentlich. Sie setzt weniger auf direkte Steuererhöhungen und stärker auf wirtschaftliche Strukturreformen. Schwerpunkte sind Einkommenssteuer, Mehrwertsteuer, Verbrauchssteuer und Steuerverfahren. Importierte Grundnahrungsmittel wie Eier, Zwiebeln und Kartoffeln sollen mit Verbrauchssteuern belegt werden – zum Schutz lokaler Produzenten. Umweltfreundliche Technologien wie Elektrofahrräder und Elektrobusse werden hingegen von der Mehrwertsteuer befreit. Neu ist auch die Einführung elektronischer Steuerrechnungen und die Verkürzung der Rückerstattungsfrist für Mehrwertsteuer.

Doch viele Kritiker trauen der Regierung nicht mehr – besonders die junge Generation. Die Proteste begannen im vergangenen Jahr als Reaktion auf neue Steuern, teils durch Druck des Internationalen Währungsfonds. Doch bald ging es um mehr: Korruption, staatliche Verschwendung, Repression. Über 60 Prozent der kenianischen Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. Und viele glauben: Diese Regierung repräsentiert sie nicht.

»Wir haben eine Generation, die – wenn sie an etwas glaubt – alles dafür tut«, sagt der Journalist Allan Ademba gegenüber jW. Der 26jährige wurde mit der BBC-Dokumentation »Blood Parliament« (Blutiges Parlament), die am Montag veröffentlicht wurde, zur zentralen Stimme des Protests. Über 7.000 Tweets trugen seinen Namen, auf X trendete er auf Platz zwei. Millionen Kenianer sahen die Doku – mit einer Mischung aus Zorn, Hoffnung und Entsetzen.

Ademba war vor Ort, als Schüsse fielen. Die Doku rekonstruiert detailliert, wie Einsatzkräfte auf unbewaffnete Demonstranten feuerten – mit gezielten »Shoot to Kill«-Befehlen. Einzelne Polizisten und Soldaten konnten anhand von Tausenden Bildern und Videos identifiziert werden. Doch statt Aufarbeitung: Druck. Behörden versuchten, Vorführungen zu verhindern, ein Abgeordneter forderte sogar ein Verbot der BBC in Kenia.

Die politische Lage ist labil. Täglich neue Konflikte – zuletzt starben fünf Menschen bei einem Landstreit in Angata Barakoi. Rutos Regierung stützt sich zunehmend auf Exoppositionsführer Raila Odinga, um Massenproteste in den West- und Küstenregionen einzudämmen. Doch selbst diese Allianz wackelt. Gleichzeitig formieren sich neue politische Kräfte: Exvizepräsident Rigathi Gachagua, Senator Okiya Omtata und der frühere Oberste Richter David Maraga arbeiten an Alternativen. Auch junge Aktivisten bereiten Kandidaturen für 2027 vor. Ihr Ziel: eigene Mehrheiten im Parlament, um Rutos Einfluss zurückzudrängen.

Die Justiz setzt erste Zeichen. Ein Gericht erklärte das Demonstrationsverbot von 2024 für verfassungswidrig. Elf Kläger erhielten Schadenersatz. Die unabhängige Polizeiaufsichtsbehörde IPOA untersucht noch immer neun Todesfälle vom 25. Juni 2024. Doch bisher steht nur ein Beamter vor möglichen Mordanklagen. Nach den Protesten hatte Ruto sein Kabinett entlassen, das Finanzgesetz gestoppt und öffentliche Spendenaktionen durch Staatsbeamte untersagt – ein Signal gegen Vetternwirtschaft und Wahlkampf-PR in Kirchen. Doch viele Versprechen aus seinem Wahlkampf sind weiter unerfüllt.

Für Allan Ademba bleibt klar: Der Zorn der Straße ist nicht verschwunden. »Diese Generation hat mit dieser Regierung nie etwas anfangen können«, sagt er. »Wenn es keine Gerechtigkeit für die über 60 Toten gibt, wird es neue Proteste geben.« Was ihn antreibt? »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie jemand neben mir erschossen wurde. Wenn du das einmal erlebt hast, kannst du nicht mehr schweigen.«

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