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Aus: Ausgabe vom 08.05.2024, Seite 8 / Ansichten

US-Geschäft verdrängen

Xi Jinping in Europa
Von Jörg Kronauer
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Empfang Xi Jinpings in Paris am 6. Mai

Zwei Schwerpunkte hat die Reise, die Chinas Präsident Xi Jinping zur Zeit in Europa absolviert. Der erste besteht in der Pflege der Wirtschaftsbeziehungen. Serbien, wo Xi am Dienstag eingetroffen ist, und Ungarn, wohin er von dort aus weiterfliegen wird, sind Länder, mit denen die Volksrepublik recht intensiv im Rahmen der »Neuen Seidenstraße« kooperiert; sie sind wichtige Standorte chinesischer Investitionen. In Ungarn, wo bisher insbesondere die deutsche Kfz-Industrie stark vertreten ist, wollen chinesische Konzerne Elektroautos für den Verkauf in der EU herstellen. Angesichts der Rolle, die die Branche künftig spielen dürfte, gewinnt Ungarn damit erhebliche Bedeutung. Stellt man in Rechnung, dass die bisherigen Platzhirsche aus Deutschland und Frankreich ihre Pfründe mit Zähnen und Klauen gegen die neue Konkurrenz verteidigen werden, hat Xis Besuch in Budapest guten Grund.

Der zweite Schwerpunkt ist ein politischer. Da die Vereinigten Staaten ihre Attacken gegen ihren großen Rivalen ausweiten, setzt Beijing alles daran, wenigstens einen allzu engen Schulterschluss zwischen den USA und Europa zu verhindern. Bisher half dabei die für viele europäische Konzerne überaus lukrative Wirtschaftskooperation mit China, die ein Abgleiten in eine offene Konfrontation als nicht wünschenswert erscheinen ließ. Da chinesische Unternehmen mittlerweile aber der europäischen Konkurrenz gefährlich werden – Stichwort Elektroautos –, drohen der Handel mit China und die Investitionen dort aus Sicht der EU an Bindekraft für die Beziehungen zu verlieren. Bleibt aus Perspektive Beijings noch die Option, darauf zu setzen, dass zumindest die führenden Staaten der EU eine eigene Weltmachtposition anstreben – unabhängig von den USA. Der Wille dazu ist derzeit am stärksten in Frankreich ausgeprägt.

Das ist der Grund, weshalb Xi seine Europareise in Frankreich begonnen hat. Nicht, dass die chinesisch-französischen Beziehungen spannungsfrei wären – im Gegenteil: Paris geht auf nationaler Ebene bereits jetzt mit harten Bandagen gegen chinesische Elektroautos vor und dringt auf EU-Ebene auf harte Abwehrmaßnahmen gegen die chinesische Industrie. Das kann der erste Schritt in einen Wirtschaftskrieg – und Schlimmeres – sein. Muss es aber vielleicht nicht: Setzt sich in der EU die Überzeugung durch, dass eine ungebremste Eskalation nur in eine stärkere Abhängigkeit von den USA führt, dann lassen sich wirtschaftliche Konflikte womöglich auf dieser Ebene beschränken. Dafür hat sich Xi in Paris stark gemacht. Dort ist das Interesse der Industrie am US-Geschäft weniger stark ausgeprägt als in Berlin, wo es quantitativ alles dominiert und im Fall der Fälle wohl den Ausschlag gibt.

Man mag Zweifel haben, dass Chinas Versuch, den transatlantischen Schulterschluss zu verhindern oder zumindest zu schwächen, gelingen kann. Viele andere Optionen hat Beijing allerdings nicht.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (7. Mai 2024 um 23:24 Uhr)
    »den transatlantischen Schulterschluss zu verhindern oder zumindest zu schwächen« würde voraussetzen, dass »die« Europäer zu einer realistischen Selbsteinschätzung kommen und eine multipolare Weltordnung anstrebten. Schaue ich mir die europäischen Polit-Figuren und deren Taten an, kann ich wenig Optimismus in dieser Richtung entwickeln. Dass der amerikaische Windschatten allmählich ausbleibt, wird wohl erkannt, in den hüpfenden Wellen der US-Hecksee dümpelt man aber gerne mit.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. Mai 2024 um 23:07 Uhr)
    Der chinesische Präsident Xi ist nach Paris gereist, da die chinesische Diplomatie Macron als einen Vertreter einer einigermaßen europäischen Politik ansieht. Ob dies der Realität entspricht, wird sich zeigen. Festzustellen ist jedoch, dass Berlin und Brüssel sich in einem desolaten Zustand befinden, der eine Reise nicht lohnenswert macht. Xi verfolgt einen langfristigen Plan, der von chinesischen Interessen geleitet wird: die Gestaltung und Dominanz des eurasischen Raums als eine einheitliche Landmasse im Gegensatz zu den bisher in der Geschichte vorherrschenden Seemächten. Im Prinzip entspricht dies einer neuen Doktrin: Eurasien für den Eurasier! Entgegen dem Artikel zweifle ich nicht daran, dass es China gelingen wird, den transatlantischen Schulterschluss zu verhindern oder zumindest zu schwächen. Dies stellt möglicherweise Europas letzte Chance dar, wenn sie überhaupt noch eine Chance in der Geschichte haben soll.

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