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Aus: Ausgabe vom 02.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Trending: Antiintellektualismus

Marginalien aus dem chinesischen Internet
Von Maik Rudolph
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Besser auch mal ein anderes Buch lesen, damit Philosophie wirklich zu einer scharfen Waffe in der Hand der Massen wird

Erstens: Die Werke von Mo Yan entfernen; er darf keine Helden und Märtyrer mehr beleidigen und damit die Volksrepublik herabwürdigen. Zweitens: Er muss sich bei ihnen und dem Volk entschuldigen. Drittens: auch beim großen Vorsitzenden Mao. Viertens: Er muss jeden Bürger der Volksrepublik mit einem Renminbi Yuan (13 Cent, jW) entschädigen, also insgesamt anderthalb Milliarden Yuan.« – Ignoriert man, dass gemäß dem siebten staatlichen Zensus der VR von 2020 die Bevölkerung bei rund 1,412 Milliarden Einwohnern liegt – darauf, was alles in den Schlafzimmern während der Lockdowns passiert ist, kann hier nicht eingegangen werden –, muss man sich doch fragen, ob dieser Forderungskatalog Fanfiction der Kultur­revolution entsprungen ist. Leider nein.

Hinter dem Künstlernamen Mo Yan verbirgt sich Guan Moye, der 1955 in der chinesischen Provinz Shandong geboren worden ist: Mitglied der KP, diente in der Volksbefreiungsarmee, stellvertretender Vorsitzender des Schriftstellerverbands der VR und Literaturnobelpreisträger. Einer der wichtigsten chinesischsprachigen Autoren der vergangenen 40 Jahre, dessen Werke auch verfilmt worden sind, etwa von Zhang Yimou, dem 1988 mit seiner Verfilmung von »Rotes Kornfeld« der Durchbruch gelang – das gleichnamige Erstlingswerk war auch zwei Jahre zuvor Mo Yans Karriereauftakt gewesen.

Dieser Wälzer, der einer Familie von Hirseschnapsbrennern und ihrem Widerstand im Zweiten Sino-Japanischen Krieg – also dem Zweiten Weltkrieg aus fernöstlicher Perspektive – folgt, in dem Mo wie in vielen seiner Werke »halluzinatorischen Realismus mit Volksmärchen, Geschichte und aktuellem Geschehen« verwebt, so die Begründung des Nobelkomitees 2021, ist Grund der derzeitigen Aufregung. Aber auch ein paar spätere Werke werden in der vierseitigen Klageschrift von Wu Wanzheng aufgelistet, die der Influencer auf dem chinesischen Pendant zu Twitter, Weibo, unter dem Titel »Der die Wahrheit aussprechende Mao Xinghuo« veröffentlichte. Immerhin schön, dass noch große Literatur gelesen wird, auch wenn es bei der Texterfassung hapert.

Wu, im Gestus eines voluntaristischen Retromaoismus, beharrt als digitaler Patriot auf Rechtsstaatlichkeit, die er auf Weibo von den Gerichten einfordert. Er wirft Mo vor, dieser diffamiere u. a. die 8. Marscharmee, sie werde als brutal und ohne Rücksicht auf kollaterale Schäden dargestellt. Japaner würden zu wenig dämonisiert, am Ende bekäme auch noch Mao sein Fett weg. Die erste Klage wurde von einem Beijinger Gericht wegen eines Formfehlers abgewiesen. Seitdem glüht das Internet in China. Die zweite Klage reichte Wu am 26. Februar ein – auch diese wurde von der Obersten Staatsanwaltschaft der Volksrepublik China nun abgewiesen. Begründung: Die Klage falle nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Das berichtete Wu am 25. März auf Weibo.

Grundlage für den Eklat: das Gesetz zum Schutz von Helden und Märtyrern, in Kraft seit dem 1. Mai 2018. Darin werden relativ banale Dinge geklärt, so die Finanzierung der Instandhaltung von Denkmälern, die Förderung des Andenkens an die revolutionären Helden, Gedenkstättenpädagogik, die Rückführung von Gebeinen, Hinterbliebenenrente. Aber es wird auch Märtyrerbeleidigung zur Majestätsbeleidigung erklärt. Für die Kontrolle sind die Marktaufsicht, Netzbetreiber und das Presse-, Film-, Literaturwesens etc. zuständig. Artikel 24 erlaubt es jedem Individuum, solche Vorkommnisse anzuzeigen. Ein 2021 beschlossenes Addendum ermöglicht Haftstrafen von bis zu drei Jahren zu verhängen. Das Gesetz ist Teil der staatlichen Kampagne gegen historischen Nihilismus und richtet sich gegen Geschichtsklitterung sowie Revisionismus. Eine Einsicht aus dem Untergang der Sowjetunion, die Xi Jinping in einer Rede zur Wahrung und Weiterentwicklung des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen 2013 nach seiner Ernennung zum KP-Generalsekretär beschrieb.

Die Erfolgsaussichten der Klage waren von Anfang an fraglich. Mo Yan wird von der Partei als herausragender Repräsentant von Chinas internationalem Einfluss und seiner ökonomischen Macht gefeiert, so 2012 das damalige Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros Li Changchun, Spitze der Zentralen Leitungsgruppe für Propaganda und Gedankengut, anlässlich des Nobelpreises – den Wu in einem aktuellen Post vom 24. März als Blendung des Volkes und Teil einer nicht näher spezifizierten »kulturellen Invasion« verurteilt. Mo lobte übrigens in seiner Dankesrede Chinas Reform- und Öffnungspolitik, ohne die er heute kein Autor wäre; an anderer Stelle verteidigte er die staatliche Zensur. Er hat sich bisher nicht zu dieser Cause célèbre geäußert.

Natürlich ist diese Misere nur ein kleines Geschrei aus den sozialen Medien. Wäre nicht Hu Xijin Mo zu Hilfe geeilt: Er ist ehemaliger Chefredakteur und -kommentator der Tageszeitung Global Times, war zuvor Außenkorrespondent während des Bosnien- und Irak-Kriegs, heute ist er Internet-Celebrity im Ruhestand. Für einen liberalen Kurs ist er nicht bekannt, so verteidigte er etwa auf Twitter (heute X) das Vorgehen des chinesischen Militärs auf dem Tiananmen 1989, das die VR für einige Zeit gegen Farbenrevolutionen immunisiert hätte; er war übrigens damals selbst Demonstrant. Für Hu sind die Klagen populistisch, eine Farce. Nachdem die zweite Klage abgeschmettert worden war, sprach Hu davon, dass es sich um einen Versuch gehandelt habe, die Meinungsfreiheit, gerade in der Literatur, und den Pluralismus der chinesischen Gesellschaft einzudämmen. Nun erwägt Wu auch noch Hu zu verklagen. Die Debatte auf dem chinesischen X-Pendant geht weiter. Lao Dongyan, Professorin an der juristischen Fakultät der Tsinghua-Universität, beklagte bereits am 7. März auf Weibo die Verbreitung einer »antiintellektuellen Kultur, die an Khmer Rouge erinnert«. Der Post wurde mittlerweile gelöscht.

»Du erbarmungswürdiges, schwaches, misstrauisches, störrisches, voreingenommenes Kind! Deine Seele ist dem Zauber vergifteten Weins erlegen!« – so schließt Mo sein »Rotes Kornfeld«. »Lass dich im Wasser treiben, um deinen Körper und deine Seele zu reinigen. Dann kannst du in die wirkliche Welt zurückkehren«. Vielleicht wird ähnlich die Debatte im digitalen Nirwana versickern – auch wenn Wu nach Absage des Gerichts schrieb, dass die Strafverfolgung von Mo Yan jetzt erst wirklich beginne. Dennoch zeigt sie problematische Tendenzen der chinesischen Kulturpolitik auf und beweist, dass auch in im hohen Maße regulierten und zensierten sozialen Medien Shitposting wie bei uns betrieben wird.

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