Der Türöffnerkrieg
Von Arnold SchölzelDer Krieg, den die NATO vor 25 Jahren gegen die Bundesrepublik Jugoslawien entfesselte, vollendete acht Jahre nach dem Ende der Sowjetunion die Niederlage des Sozialismus in Europa und die der Bewegung Blockfreier Staaten, die 1961 in Belgrad gegründet worden war. Die Zügelung des imperialistischen Faustrechts durch das Völkerrecht, insbesondere durch die UN-Charta, war vorläufig beseitigt. Die NATO erteilte sich selbst das Mandat zum Überfall, das heißt zum Staatsterror.
Die durch den DDR-Anschluss vergrößerte Bundesrepublik machte mit. Darauf geht das Gedicht des Liedermachers und Schriftstellers Franz Josef Degenhardt (1931–2011) ein, das jW am Tag nach dem Überfall auf der Titelseite veröffentlichte. Erst 15 Jahre später räumte der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder ein: »Da haben wir unsere Flugzeuge (…) nach Serbien geschickt, und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte.« Sein Nachfolger Olaf Scholz und dessen Außenministerin Annalena Baerbock sehen das völlig anders und können keinen Bruch des Völkerrechts erkennen.
Das aber war die Zäsur, die von der NATO gesetzt wurde. Sie ist seitdem ein Kriegführungspakt. Die völkerrechtswidrigen Feldzüge gegen Afghanistan, Irak und Libyen, aber auch das illegale Eingreifen in Syrien, wo bis heute US-Truppen stationiert sind, die Völkerrechtsbrüche des NATO-Mitglieds Türkei in Syrien und im Irak sowie schließlich der insbesondere von den USA und der BRD gedeckte Genozid Israels in Gaza sind nur einige Stationen. Der Krieg von 1999 öffnete auch die Tür, durch die Russland 2022 beim Einmarsch in die Ukraine ging.
Der Export von Menschenrechten und Demokratie, der zur Rechtfertigung der Abenteuer des Westens angeführt wird, setzt die Verneinung des Rechts auf Leben voraus. Hinzu kommt: Die Dämonisierung eines Staatsoberhaupts durch westliche Politiker und Medien ist seitdem ernst, nämlich tödlich gemeint. Slobodan Milošević wurde im niederländischen Gefängnis zu Tode gebracht, der Iraker Saddam Hussein und der Libyer Muammar Al-Ghaddafi wurden unter NATO-Aufsicht von einheimischen Kopfabschneiderbanden bestialisch ermordet. In westlichen Kriegsmedien waren die drei jeweils »Wiedergänger Hitlers«, »Schlächter« und »Faschisten«. Nur von den ukrainischen Anhängern des Faschisten Bandera, die im Auftrag der USA und auf Rechnung der EU 2014 in Kiew den frei gewählten Präsidenten der Ukraine stürzten, erfuhr westliches Publikum so gut wie nichts.
Am 17. Februar 2008 erkannte die Mehrheit der NATO-Mitglieder die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo an. Damit war das unmittelbare Ziel des Krieges von 1999 erreicht: die erste gewaltsame Grenzverschiebung in Europa seit 1945. Das Kosovo ist in Wirklichkeit ein NATO-Protektorat, in dem noch immer 4.800 NATO-Soldaten aus 28 Ländern stationiert sind. Im April soll das deutsche Kontingent wieder einmal aufgestockt werden.
Jugoslawien wurde 1999 in 78 Bombentagen niedergerungen. In der Ukraine begannen die Putschisten 2014 ihre »antiterroristische Operation« gegen den Donbass-Aufstand. Der schnelle Durchmarsch scheiterte aber – es war die wahrscheinlich größte Niederlage des Imperialismus seit 1999. Die Zeiten ändern sich erneut.
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Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!
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Zu drei Argumenten des Artikels möchte ich Anmerkungen machen:
1. »Die Zügelung des imperialistischen Faustrechts durch das Völkerrecht, insbesondere durch die UN-Charta, war vorläufig beseitigt.«
2. Die NATO »ist seitdem ein Kriegführungspakt«.
3. »Der Krieg von 1999 öffnete auch die Tür, durch die Russland 2022 beim Einmarsch in die Ukraine ging.«
Im ersten Argument sehe ich eine idealistische Auffassung des Völkerrechts, zudem einen Subjektschub: Wer hat diese Zügel gemacht? Wer wird gezügelt? Von wem?
Die UNO ist die adäquate Plattform für Nationen, die ein grenzenloses Interesse an der Benutzung sie beschränkender Souveräne haben. In der unumgänglichen Kundgabe der Stellung zur übrigen Staatenwelt, wird von allen Nationen laufend der Grad der wechselseitigen Respektierung erkundet. Dies hat besondere Bedeutung, wenn die Völker dieser Gemeinschaft wieder gegeneinander zugeschlagen haben, oder dieses ansteht.
Die Mitgliedschaft in der UNO setzt allerdings voraus, dass ein Staat politischen Kredit genießt; dass er als veritable Macht mit außenpolitischer Potenz Anerkennung findet, weil er als relevanter Faktor für die Weltordnung betrachtet wird. Was die UNO beschließt, tritt als Recht auf. Das enthält den Widerspruch, dass es ein übergeordnetes vorausgesetztes Recht von konkurrierenden Souveränen sein soll, es aber erst durch den Beschluss der Souveräne zustande kommt. Um die angestrebte Einheitlichkeit der Rechtsform nicht permanent ad absurdum zu führen, wird Einstimmigkeit angestrebt – oder kein Beschluss, der dann ohnehin von den entscheidenden Mächten unterlaufen wird. (Oder wie im Fall Jugoslawien ignoriert.) Durch das Vetorecht im Sicherheitsrat wird dem vorgebeugt. Das Ideal der Nichteinmischung: Zu Ihrer Existenzsicherung hat die SU das Prinzip der Nichteinmischung gefordert und auch bekommen. Zwar mit Unwillen wurde deren Macht, aber akzeptiert, um »im Wandel durch Annäherung« die Chance zu ergreifen, den Ostblock mit Hilfe der Anerkennung zu erodieren. Die Bedienung des Kreditbedarfs des Ostens war der Hebel, um den Feind ökonomisch zu schädigen; in den Abrüstungsverhandlungen war der Preis für die Anerkennung, die östliche Militärmacht
kalkulierbarer und erpressbarer zu machen. Die Nichteinmischung erwies sich auch in diesem Fall als effektive Art des Eingriffs. Da mit dem Ende des Kalten Krieges der weltpolitische Gegner, dessen Reaktion beim Eingriff in andere Souveräne durch den Westen zu berücksichtigen war, verschwunden war, wurde die Parole »Menschenrecht bricht Völkerrecht« en vogue. Was das jeweils heißt, wurde von den maßgeblichen Nationen – voran die USA – definiert und entsprechend umgesetzt (Jugoslawien, Irak
etc.). Das ist ein wichtiges Gleis der neuerdings vielbeschworenen »regelbasierten Weltordnung«.
Zum zweiten Argument fällt mir als erstes ein: Die NATO ist schon als Kriegführungspakt gegründet worden. Und war damit erfolgreich. Den Warschauer Pakt, der sich in Reaktion auf die NATO gegründet hatte, gibt es nicht mehr. Seitdem hat sich die NATO immer weiter gen Osten vorgeschoben, vorbereitet durch die friedliche Eroberung diverser Staaten, die vorher EU-Mitglieder geworden sind.
Im dritten Argument sehe ich eine untaugliche Metapher: Imperialistisches Agieren ist unabhängig von zu öffnenden Türen. Die Interessen der stärksten imperialistischen Nationen wissen sich durchzusetzen; mal friedlich wie mit der EU, mal kriegerisch wie in Jugoslawien (Irak, Lybien, Syrien, Afghanistan …). Dazu ist in den Artikeln der Nummer weiteres Material aufgeschrieben.
Wenn ich gegen Imperialismus Stellung beziehen will, ist es nicht förderlich, den Eindruck zu erwecken, es gäbe über allen Machthabern eine Berufungsinstanz, um bei passender Gelegenheit sich damit rauszureden, die haben doch selber gegen Völkerrecht verstoßen …