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Aus: Ausgabe vom 22.03.2024, Seite 8 / Ausland
Politische Verfolgung in der Türkei

»Sie wurde immer wieder freigesprochen«

Türkische Justiz will Exiloppositionelle Pınar Selek verurteilt sehen. Prozess im Juni. Ein Gespräch mit Bernard Eynaud
Interview: Gitta Düperthal
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Demonstranten fordern vor dem Gerichtssaal in Istanbul Gerechtigkeit für Pınar Selek (24.1.2013)

Seit 1998 wird die Antimilitaristin, Feministin, Schriftstellerin und Soziologieprofessorin Pınar Selek wegen eines Terrorismusvorwurfs vom türkischen Staat verfolgt. Damals musste sie für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Ständig wird das Strafverfahren gegen die im französischen Exil lebende Frau wieder aufgenommen. Sie organisieren eine internationale Delegation mit, um den Prozess gegen Selek am 28. Juni zu beobachten. Mit welchem Ziel?

Wir finden es ungeheuerlich, dass der türkische Staat bis heute nicht von seiner Unterstellung des Terrorismus und der Verfolgung ablässt. Pınar ist überzeugte Pazifistin. Ihr dennoch schon zum vierten Mal die Beteiligung am Bombenattentat auf einen Gewürzmarkt in Istanbul am 9. Juli 1998 zu unterstellen, zeigt, wie weit das Unrechtssystem geht. Sie wurde immer wieder davon freigesprochen. Unser Einsatz für Pınar bezieht sich nicht nur auf sie individuell. Er gilt allen in der Türkei politisch verfolgten Oppositionellen sowie Minderheiten wie Kurdinnen und Kurden, Armenierinnen und Armenier, queeren Personen, die eine andere Sexualität leben. Nicht nur Pınar ist in Gefahr, selbst im französischen Exil vom türkischen Staat verfolgt zu werden. Dem Erdogan-Regime geht es darum, das ganze System der Freiheits- und Menschenrechte aus den Angeln zu heben. Unser Kampf gilt Pınar im einzelnen, richtet sich aber grundsätzlich gegen die extreme Rechte und den Faschismus.

Sind europäische Regierungen mitverantwortlich, dass die Türkei so vorgeht?

Deren Schweigen zu dem Unrechtsstaat, der die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet, können wir nicht hinnehmen; auch nicht Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen wider die Menschenwürde. Pınar wurde in der Haft gefoltert, weil sie Namen von Kurden nicht preisgeben wollte. Was ist das für eine Justiz, die nach dreimaligem Freispruch erneut anklagt, wegen desselben angeblichen Vergehens?

Bei der Explosion am 9. Juli 1998 starben sieben Menschen, 127 wurden verletzt. Gutachter stellten fest: Eine defekte Gasleitung sei Ursache gewesen. Der einzige Belastungszeuge, der ihre Mittäterschaft behauptete, widerrief seine unter Folter erpresste Aussage. Ist die Justiz nicht gerecht, muss die Zivilgesellschaft aktiv werden. Die Regierung Emmanuel Macrons setzt trotz allem auf Erdogans Regime, lässt sich auf unlautere Deals ein; erwartet sich eine Wendung im Ukraine-Krieg oder dass es von Geflüchteten »entlastet« wird, die sich nach Frankreich auf den Weg machen.

Schützt der französische Staat Pınar Selek im Exil?

Die Polizei schützt sie vor Angriffen türkischer Rechtsextremer auf französischen Boden, nicht aber, sollte der türkische Unrechtsstaat Zugriff auf sie nehmen wollen. Sie ist französische Staatsbürgerin. Es gibt die französische Staatsbürgerschaft erster Klasse, von Geburt an, die automatisch unter dem Schutz des Staates steht; und eine zweiter Klasse für auf Antrag hin Eingebürgerte: Ihnen gewährt der Ministerpräsident Schutz, sollte er sich bewusst dafür entscheiden.

Seit dem Internationalen Frauentag wird Pınar Selek von der Universität in Nizza auf der Place Garibaldi mit einer Tafel für ihre Wissenschaft gewürdigt.

Genau deshalb verfolgt sie der türkische Staat so infam. Sie ist eine freie Persönlichkeit, die als Soziologin ihre Stimme erheben kann und es auch tut.

Welche Brisanz hat der Prozess im Juni?

Er findet vor dem höchsten Gerichtshof statt, der Instanzenweg endet hier. Vorgeschrieben ist, dass Beschuldigte gehört werden. Eine Reise in die Türkei kommt für Pınar nicht in Frage, da sie dort inhaftiert würde. Den Vorschlag ihres Anwalts, sie per Videokonferenz zu hören, wurde abgelehnt. Möglicherweise vertagt das Gericht. Sollte es aber die Schuldvorwürfe bestätigen, steigt das Risiko für Pınar in Frankreich. Bekanntermaßen schrecken Unrechtsstaaten auch vor Verfolgung im Ausland nicht zurück. Wir appellieren an Anwälte, Politikerinnen, Schriftsteller und Journalistinnen, sich der internationalen Delegation zur Prozessbeobachtung anzuschließen.

Bernard Eynaud ist Präsident der Ligue des droits de l’homme (französischen Liga für Menschenrechte) in Marseille

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