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Aus: Ausgabe vom 18.03.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Tag der politischen Gefangenen

Wider die Repression

Tag der politischen Gefangenen: Besonders Linke aus der Türkei, kurdische Aktivisten sowie Autonome im Fokus der Behörden
Von Henning von Stoltzenberg
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Protest gegen die Kriminalisierung von Antifaschismus und gegen Polizeigewalt in Hamburg (18.3.2022)

Gegen das Vergessen: Bundesweit finden am Montag wieder zahlreiche Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen zum Tag der politischen Gefangenen am 18. März statt. Zentrale Forderung ist die Freilassung der Inhaftierten hierzulande und in aller Welt. Der Aktionstag soll dazu beitragen, die politischen Gefangenen verschiedener linker Bewegungen und Organisationen nicht zu vergessen und den Fokus auf die Solidaritätsarbeit zu lenken.

Das Datum ist symbolträchtig und wurde auf Initiative der Internationalen Roten Hilfe (IRH) ausgewählt. An genau jenem Tag im Jahr 1871 erhielt die Arbeiterklasse mit Ausrufung der Pariser Kommune erstmals in der Geschichte politische Macht. Sie konnte sich 72 Tage gegen die bürgerliche französische Armee und den preußischen Belagerungsring behaupten. Am 21. Mai 1871 begann die militärische Niederschlagung der Pariser Kommune. Sie gipfelte in einer Blutwoche des bürgerlichen Terrors. Über 30.000 Männer, Frauen und Kinder wurden als Sympathisantinnen und Sympathisanten oder Aktive der Kommune per Massenexekutionen hingerichtet, mehr als 40.000 Menschen wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und anschließend in Strafkolonien deportiert.

Im Jahr 1923 beging die Internationale Rote Hilfe in Erinnerung an den Pariser Aufstand und deren grausame Niederschlagung erstmals den Internationalen Tag der politischen Gefangenen. Nach der Zerschlagung der Arbeiterbewegung in Deutschland durch den Faschismus geriet der Gedenktag jahrzehntelang weitgehend in Vergessenheit.

Erst 1996 wurde das Datum wieder aufgegriffen, als die Rote Hilfe und die Gruppe Libertad zu Aktionen für die politischen Gefangenen am 18. März aufriefen. Seit 1998 gibt die Rote Hilfe eine Sonderzeitung zu diesem Tag heraus, die über den Stand der Repression und die Situation der politischen Gefangenen informiert. Aktuell befinden sich verschiedene Spektren der Linken besonders im Blick der Behörden. Starker Verfolgung unterliegen weiterhin linke Exilbewegungen aus der Türkei und Kurdistan.

Das letzte Urteil dazu fiel am vergangenen Mittwoch in der Hauptverhandlung gegen Sabri Çimen am Oberlandesgericht Koblenz. Der kurdische Aktivist wurde wegen angeblicher »hauptamtlicher Kadertätigkeit« für die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und damit der »mitgliedschaftlichen Betätigung in einer terroristischen Vereinigung im Ausland« nach 129 b StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Im Juni 2022 war Sabri Çimen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, der auf Betreiben der deutschen Strafverfolgungsbehörden erlassen wurde, in Paris festgenommen und später ausgeliefert worden. Ähnlich erging es dem Gefangenen Kenan Ayaz, der derzeit in Hamburg vor Gericht steht und von Zypern an die BRD ausgeliefert wurde. Der Rechtshilfefonds Azadi e. V. unterstützt aktuell elf kurdische politische Gefangene, die aufgrund des PKK-Verbotes in der BRD inhaftiert sind.

Ein weiterer Prozess in Düsseldorf richtet sich gegen Özgül Emre, Ihsan Cibelik und Serkan Küpeli, die in der Vergangenheit das sogenannte Deutschland-Komitee der ebenfalls verbotenen DHKP-C gebildet haben sollen. Alle drei befinden sich bereits seit Mai 2022 in Untersuchungshaft, Cibelik wird seit seiner Festnahme eine lebenswichtige Krebsoperation der Prostata verwehrt.

Nicht nur in Sachsen sind autonome Antifaschisten verschärft im Visier der Ermittlungsbehörden. Mit den nicht rechtskräftigen mehrjährigen Haftstrafen für Lina E. und drei Mitstreiter ist das Antifa-Ost-Verfahren nach Aussagen der Bundesanwaltschaft noch lange nicht beendet. Gegen eine öffentlich nicht bekannte Anzahl weiterer Personen laufen Ermittlungsverfahren oder wird nach Paragraf 129 des Strafgesetzbuches wegen Bildung krimineller Vereinigungen gefahndet. Im neuesten staatlichen Konstrukt sehen Ermittler enge Verbindungen zu den Antifas, die in Budapest am Rande eines internationalen Treffens von Nazis mit ebensolchen aneinandergeraten waren. Von den insgesamt 15 Beschuldigten besitzen zwölf die deutsche Staatsangehörigkeit. Während der Großteil der Beschuldigten derzeit untergetaucht ist, sollen zwei im Dezember verhaftete Beschuldigte, die in Dresden und Mailand im Gefängnis sitzen, nach Ungarn ausgeliefert werden. Das versuchen die Solidaritätsbewegung und Angehörige derzeit zu verhindern.

Auch im Bereich der Klimabewegung ist die Hemmschwelle der Behörden, bei Aktionen des zivilen Ungehorsams mehrmonatige Haftstrafen zu verhängen, deutlich gesunken. Daher sei es für linke Aktivisten wichtig, sich mit Knast und Gefangenschaft zu befassen, aber auch den politischen Gefangenen zu schreiben und ihnen zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind, heißt es im diesjährigen Vorwort der Sonderzeitung der Roten Hilfe zum 18. März.

Samidoun-Verbot

Im Herbst wurde die staatliche Repression gegen die palästinensische Bewegung in Deutschland verstärkt. In diesem Zuge verbot Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am 2. November 2023 das palästinensische Netzwerk für Gefangenensolidarität »Samidoun«. Es war im Jahr 2011 aus dem Umfeld der 1967 gegründeten, linken militanten »Volksfront zur Befreiung Palästinas« (PFLP) und im Kontext eines Hungerstreiks palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen entstanden. Der Vorwurf gegenüber dem in mehreren Ländern aktiven Netzwerk lautete, Samidoun verbreite »unter dem Deckmantel einer sogenannten Solidaritätsorganisation für Gefangene Israel- und judenfeindliche Propaganda«. Vorwand für das Verbot war eine Aktion von Aktivisten aus dem Umfeld der Gruppe am 7. Oktober in Berlin, bei der Angriffe der Hamas und weiterer bewaffneter palästinensischer Fraktionen in Israel als Widerstand gegen das Besatzungsregime begrüßt wurden. Vertreter der Gruppe erklärten in der jW, der Grund für die staatliche Repression sei die Unterdrückung des von ihnen vertretenen politischen Standpunkts, der sich »offen gegen die Kolonisierung Palästinas« richte.

In israelischen Gefängnissen sind laut der Organisation Adameer aktuell mehr als 9.000 palästinensische Gefangene inhaftiert. Rund 3.500 davon befinden sich in »Verwaltungshaft«, bei der Personen ohne Gerichtsverfahren und ohne eine Straftat begangen zu haben interniert werden können. Laut »Defence for Children Palestine« sind aktuell rund 600 der in israelischen Gefängnissen Inhaftierten minderjährig. Prominente politische Gefangene, die die Hamas laut eigenen Angaben mit den am 7. Oktober genommenen israelischen Geiseln freipressen will, sind der »palästinensische Nelson Mandela« Marwan Barghuthi (Fatah) und der PFLP-Generalsekretär Ahmad Sa’adat. (ji)

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