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Aus: Ausgabe vom 14.03.2024, Seite 8 / Ansichten

Warnschuss

Putins Äußerungen zur Atomkriegsgefahr
Von Jörg Kronauer
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Russlands Präsident Wladimir Putin während eines Interviews (Moskau, 12.3.2024)

Bereiten die großen Nuklearmächte eine »Rückkehr zu Atomtests« vor? Mit dieser Frage befasst sich die aktuelle Ausgabe des Bulletin of the Atomic Scientists, eine renommierte, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Fachzeitschrift, deren »Weltuntergangsuhr«, 1947 erfunden, zur Zeit auf 90 Sekunden vor Mitternacht steht, so kurz vor der atomaren Vernichtung wie nie zuvor. In den einschlägigen Elitenzirkeln, die sich mit Fragen der Militärstrategie befassten, werde in letzter Zeit zuweilen über einen vermeintlichen Nutzen von Nuklearwaffentests schwadroniert, berichtet das Blatt. Auf dem US-Atomtest­gelände in Nevada würden neue Tunnel gebaut; offiziell heiße es zwar, man modernisiere die Anlage nur, um verschiedene zulässige Aktivitäten fortführen zu können – doch sei dies glaubhaft? Immerhin haben die USA den Kernwaffenteststoppvertrag von 1996, der alle, also auch unterirdische Nuklearwaffentests verbietet, bis heute nicht ratifiziert.

Auf das Geraune, die Spekulationen über neue US-Atomtests, hat sich Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch in einem Fernsehinterview bezogen. Er hat angekündigt, falls Washington tatsächlich welche durchführe, behalte Moskau sich das ebenfalls vor. Russland hat, um im Fall der Fälle handlungsfähig zu sein, seine Ratifizierung des Teststoppvertrages von 1996 bereits im November zurückgezogen. Die im Gang befindliche Modernisierung der US-Atomwaffen mache ihm allerdings keine Sorgen, teilte Putin mit. Die Vereinigten Staaten führen gerade eine neue Generation Atombomben ein, die B61-12, die auch in Büchel gelagert werden soll. Sie ist kleiner, kann präzise gelenkt werden – und sie gilt daher auch als taktisch einsetzbar, als »Schlachtfeldwaffe«, was die Hemmschwelle, sie abzuwerfen, senkt. Vergangene Woche wurde der US-Kampfjet F-35A für ihren Abwurf zertifiziert. Russland verfüge trotzdem über das »modernere« Atomarsenal, erklärte Putin.

Vor allem aber äußerte Putin sich zur Atomkriegsgefahr. Natürlich sei Russland »militärisch-technisch« bereit, Kernwaffen einzusetzen, erklärte er. Es werde das aber nur tun, wenn seine Existenz, Souveränität und Unabhängigkeit bedroht seien. Damit aber rechne er, Putin, nicht. Die USA wüssten genau, mit welcher Eskalationsgefahr es verbunden sei, wenn sie Bodentruppen in die Ukraine schickten. Sie würden das deshalb kaum tun: In den US-Regierungsapparaten gebe es genug Fachleute »auf dem Feld strategischer Zurückhaltung«. Die Äußerung darf man wohl vor allem als einen neuerlichen Warnschuss in Richtung Westeuropa verstehen. Schon Ende Februar hatte Putin gewarnt, sollte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Drohung wahr machen, europäische Truppen in die Ukraine zu entsenden, dann begebe er sich auf eine abschüssige Bahn, die jederzeit im Atomkrieg enden könne. Die Debatte darüber dauert dennoch an. Die Fähigkeit zu »strategischer Zurückhaltung«, die Putin in den USA wahrnimmt, geht den Herrschenden in der EU offenkundig ab.

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  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (14. März 2024 um 08:24 Uhr)
    »Es (= Russland) werde das (= Kernwaffeneinsatz) aber nur tun, wenn seine Existenz, Souveränität und Unabhängigkeit bedroht seien«: Putin kann froh sein, dass die Ukraine keine Atommacht ist. Dann nämlich wäre Russland seit dem 24. Februar 2023 mit Atomwaffen beschossen worden. Denn, seitdem tut Russland alles, um die »Existenz, Souveränität und Unabhängigkeit« der Ukraine nicht nur zu bedrohen, sondern aktiv zu vernichten! - Mit seiner Äußerung zum Kernwaffeneinsatz macht Putin zunichte, was die Sowjetunion in langen Verhandlungen mit dem »Westen« erreicht hatte: Nämlich das Verbot des Ersteinsatzes von Kernwaffen. Denn, so das Argument damals, dann gibt es auch keinen Zweiteinsatz usw. und damit auch keinen Atomkrieg.
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (14. März 2024 um 12:56 Uhr)
      Seitdem »tut Russland alles, um die ›Existenz, Souveränität und Unabhängigkeit‹ der Ukraine nicht nur zu bedrohen, sondern aktiv zu vernichten!« Lesen Sie sich den Vertragsentwurf von Istanbul durch. Dort steht das Gegenteil. Er wurde von der Ukraine zerrissen, die dafür und für ihre Handlungen im Donbass seit 2014 nun die Folgen zu tragen hat. Die zweite Erfindung unseres Chefignoranten auf so engem Raum: Es gab nie einen Vertrag über den Ersteinsatz von Atomwaffen, nur Vorschläge der UdSSR. Die Erstschlagdoktrin der USA gab es dagegen schon immer. Russland führte diese Möglichkeit dann Jahrzehnte später (!) auch ein. Alle Rüstungskontrollmaßnahmen wurden von den USA zunichtegemacht, nicht von Russland ausgehend. Aber schon heute oder morgen werden sie ungerührt das Gegenteil behaupten (als dritte Erfindung).
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (13. März 2024 um 21:26 Uhr)
    Die Fähigkeit zu strategischer Zurückhaltung ging den (west-)europäischen Führungen auch in Zeiten der »Nachrüstung« ab, insbesondere Herrn Schmidt. Große Teile der damaligen Friedensbewegung haben aber die amerikanische Strategie verstanden, die – wie heute – einen gegebenenfalls atomaren Konflikt auf Europa begrenzen wollte, bzw. meinte, begrenzen zu können. Dass die NATO sich mit Manövern allmählich an Murmansk herantastet, sollte aufhorchen lassen. Der dort stationierte Anteil der russischen Zweitschlagfähigkeit wird natürlich am besten am Stationierungsort »neutralisiert« (siehe die Verluste in der russischen Schwarzmeerflotte), der Ozean ist halt noch nicht so durchsichtig geworden, wie Strategen es gerne hätten. Die Enthauptungsschlag- und Entsaftungsbombenphantasien spuken anscheinend immer noch in den Köpfen gewisser Kreise, auch wenn sie das heute nicht laut sagen. Die Mittel der kognitiven Kriegführung sind zwar nicht eleganter, aber zielgerichteter geworden. Ihr gemäß gibt es in Russland nur ein Problem und das heißt Putin. Vor gut zwanzig Jahren gab es eine Liste von fünfhundert Personen, nach deren Vernichtung alle Probleme des Terrorismus beseitigt sein sollten. So viel ich weiß, haben mehr als fünfhundert dran glauben müssen, der Erfolg war mäßig, die Drohnen fliegen immer noch. War die Liste mäßig oder die Methoden ihrer Abarbeitung? Oder war etwas ganz anderes ursächlich für (nicht nur) diesen Misserfolg?

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