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Aus: Ausgabe vom 30.12.2025, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Seismologie

Geologische Zeitbombe

Seismologischen Studien zufolge wächst die Erdbebengefahr in der Türkei. Vor allem Istanbul ist gefährdet
Von Marc Püschel
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Ein Rettungshelfer arbeitet während einer Übung für einen möglichen Erdbebenfall in Istanbul an den Trümmern eines Gebäudes (Istanbul, 7.11.2006)

Die Frage ist nicht mehr, ob, sondern nur noch, wann. In der Westtürkei werden starke Erdbeben erwartet, die besonders die Hauptstadt Istanbul schwer treffen könnten. Einen ersten »Warnschuss« gab es am 23. April 2025, als ein Erdbeben im Marmarameer mit einer Magnitude von 6,2 auf der Richterskala auch in der rund 70 Kilometer vom Epizentrum entfernten Millionenmetropole zu spüren war. Die Auswirkungen der Erschütterungen waren vergleichsweise gering: 359 Menschen wurden verletzt, niemand getötet, und nur ein Gebäude stürzte ein. Entwarnung konnte deswegen aber nicht gegeben werden. Am 25. April wies der türkische Seismologe Naci Görür auf X darauf hin, dass die Gefahr für ein weit stärkeres Erdbeben in unmittelbarer Nähe von Istanbul eher noch gestiegen sei.

Die seismische Aktivität in der Region um Istanbul ist aufgrund der dort verlaufenden sogenannten Nordanatolischen Verwerfung generell hoch. Im Norden der Türkei stoßen die kleine Anatolische und die große Eurasische Platte aneinander und bewegen sich horizontal aneinander vorbei (Transformstörung). Dabei verhaken sich die Platten immer wieder, die aufgestaute Spannung entlädt sich in Erdbeben. Istanbul liegt quasi direkt über dieser tektonischen Bruchlinie. Dass die Arabische Platte von Südosten her gegen die Anatolische Platte drückt, erhöht die Spannung weiter.

Die Anatolische Platte wird jedes Jahr um rund 2,5 Zentimeter nach Westen geschoben. Doch nicht nur die Platte, auch die Erdbeben verlagern sich in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise nach Westen. Fanden in den 1940er Jahren die Erdbeben noch im Landesinneren statt, rückten sie später Richtung Istanbul. Die letzte große Erschütterung im Norden der Türkei fand am 17. August 1999 statt. Das Beben mit einem Wert von 7,6 auf der Richterskala hatte sein Epizentrum in der Stadt İzmit, die rund 80 Kilometer südöstlich der Hauptstadt liegt. Dabei starben in der Region über 18.000 Menschen.

In der im Dezember 2025 in der Zeitschrift Science veröffentlichten Studie »Fortschreitende östliche Verwerfung der Marmara-Hauptverwerfung in Richtung Istanbul« haben Wissenschaftler um Patricia Martínez-Garzón vom GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung diese Westbewegung genauer studiert. In ihrem Fokus liegt die Marmara-Verwerfung. Diese Teilzone der Nordanatolischen Verwerfung ist die einzige Region entlang der beiden tektonischen Platten, an der seit Jahrhunderten kein Erdbeben mit einer Magnitude von mehr als sieben mehr aufgetreten ist (das letzte schwere Erdbeben bei Istanbul war 1766). Aus historischen Daten wurde als Durchschnittswert für einen »seismischen Zyklus«, also für die Wiederkehr schwerer Beben, 250 Jahre berechnet – die Marmara-Verwerfung ist also »überfällig«.

Die GFZ-Wissenschaftler stellen dabei einen deutlichen Unterschied innerhalb der Marmara-Verwerfung fest. Durch die Analyse zahlreicher kleinerer Erdbeben konnte auf einen geringen Verhakungsgrad im westlichen Teil des Binnenmeeres geschlossen werden. Im östlichen Teil und direkt südlich von Istanbul – bei den Prinzeninseln – ist der Verhakungsgrad dagegen deutlich höher. Das hohe Maß an tektonischer Energie, die sich dort aufstaut, lässt auf ein bald bevorstehendes Erdbeben mit einer Magnitude von über sieben schließen, das unmittelbar die Metropole treffen wird. Aus den beobachteten Verlagerungen folgern die Seismologen vom GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung, dass das Erdbeben vom April 2025 »die seismische Energiefreisetzung näher an das verhakte Prinzeninseln-Segment heran« bringt und damit auch näher »an den Teil der Marmara-Verwerfung direkt südlich von Istanbul, der allein ein Erdbeben der Stärke sieben auslösen kann«.

Trotz des prognostizierten Bebens ist die Hauptstadt immer noch nicht dafür gewappnet. Istanbul hat offiziell knapp 16 Millionen Einwohner, die Zahl wird aber weitaus höher geschätzt, da viele Menschen in der Stadt, vor allem Migranten, nicht gemeldet sind. Im Falle eines Bebens mit einer Magnitude über sieben könnten Hunderttausende oder sogar Millionen Menschen sterben. Nach dem Beben von İzmit 1999 wurde zwar in Istanbul ein Stadterneuerungsplan aufgelegt, um die Stadt erdbebensicher zu machen, doch lässt der Fortschritt zu wünschen übrig. Während wichtige Gebäude abgesichert werden – dieses Jahr wurde etwa die Hagia Sophia restauriert und ihre Bausubstanz gestärkt –, sind die meisten Gebäude in der Metropole noch nicht sicher. Alper Ünlü, der Vorsitzende der Architektenkammer Istanbuls, warnte dieses Jahr, dass von den 1,2 Millionen Gebäuden rund 800.000 in einem riskanten und 200.000 in einem sehr riskanten Zustand seien.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden zwar die Bauvorschriften verschärft, doch die Sanierung bzw. der Abriss und Neubau von bestehenden älteren Gebäuden ist aufwendig und kostenintensiv. Oft wird dies von Konzernen dazu genutzt, Mieter und Wohnungseigentümer zu vertreiben oder ihre Wohnungen zu verkleinern, weswegen viele zögern, einem Neubau von Immobilien zuzustimmen. Wenn Wohnungen in derselben Größe erdbebensicher wiederaufgebaut werden sollen, müssen Eigentümer extra zahlen, teilweise mehr, als sie für die ursprüngliche Wohnung gezahlt haben. In vielen Bezirken finden sich aber nicht einmal Baufirmen für die nötigen Neubauten, da sich diese zuerst auf die für sie profitableren Sanierungen im Stadtzentrum bzw. in wohlhabenderen Bezirken konzentrieren. Experten wie Görür fordern daher seit langem, staatlicherseits die Anstrengungen zu intensivieren, um eine Katastrophe in Istanbul zu verhindern. Die Forscher um Martínez-Garzón wiederum plädieren für die Errichtung weiterer Messstationen, um eine kontinuierliche seismische Echtzeitüberwachung der Region zu garantieren.

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