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Aus: Ausgabe vom 20.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Erdbeben in der Türkei 2023

Staat verschleppt Hilfe

Erdbeben in der Türkei: Katastrophenschutzbehörde blockierte Hilfslieferungen an kurdische Aleviten
Von Alieren Renkliöz
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»Hört uns jemand?«: Gedenken an die Erdbebenopfer in der südtürkischen Provinz Hatay (6.2.2024)

»Es roch überall nach Tod«, berichtet eine kurdische Alevitin, die nach dem Erdbeben vom 6. Februar 2023 in die Provinz Kahramanmaraş (kurz: Maraş) reiste. Das Heimatdorf der Frau ist weitgehend zerstört. Nach offiziellen Angaben starben fast 60.000 Menschen. Während die türkische Ärztekammer allerdings von mindestens 120.000 Toten in der Türkei ausgeht, schätzt die Opposition sogar 240.000 Tote. Die AKP/MHP-Regierung verhindert eine unabhängige Prüfung der Todeszahlen. 870.000 Häuser müssen abgerissen und neu errichtet werden. Die Zahl der bisher abgerissenen und wieder errichteten Gebäude liegt bei 20.000 im gesamten Erdbebengebiet. Eine ganze Region ist obdachlos.

In den Epizentren der Erdbeben, Pazarcık und Elbistan, leben viele Aleviten. Hilfe kam aber gerade dort, in den kurdisch-alevitischen Dörfern in der Provinz Kahramanmaraş, nach Aussagen von Mehmet Üstek, Kovorsitzender der »Europäischen Initiative Maras e. V.« (Mar-Def), erst in der dritten oder vierten Woche nach dem Erdbeben an. Mar-Def ist ein Dachverband verschiedener Organisationen von nach Europa emigrierten Menschen aus Maraş. Es gebe sogar Dörfer, berichtet Üstek, in denen Afad, die staatliche Katastrophenschutzbehörde, erst im zweiten Monat nach den Erdbeben eintraf. Auch Städte wie Antakya in der Provinz Hatay, in der arabische Alawiten wohnen, schnitt Afad von Hilfsmaßnahmen ab: »Bis zum dritten Tag war der Staat weder in Adıyaman noch in Hatay. Wo doch bei so einem Erdbeben jede Stunde überlebenswichtig ist. Die Temperaturen fielen in den Minusbereich, viele Menschen starben einen Kältetod.«

Schon am ersten Tag behinderten Militär und Afad die Hilfsmaßnahmen. Zwar erlaubte der Staat Essenshilfen, aber Zelte wurden beschlagnahmt. Üstek kritisiert: »Mit der Behauptung, sie müssten gerecht verteilt werden, nahm uns Afad in der wichtigsten Zeit Zelte weg, die wir mühsam organisiert hatten. Wir haben diese Zelte in den alevitisch-kurdischen Regionen danach nicht mehr gesehen.« Um die Menschen trotzdem mit Notunterkünften zu versorgen, mussten sie Nebenstraßen und kleinere Fahrzeuge nutzen, um nicht so sehr aufzufallen. Diese Erfahrungen bestätigt auch ein Hilfsnetzwerk, das sich um die Erdbebenopfer des Dorfes Topraktepe in der Provinz Malatya bildete.

Üstek berichtet von einer Hilfslieferung aus Frankreich: Bettdecken und mehr als hundert Katastrophenschutzzelte, jedes rund 2.400 Euro teuer. »Afad beschlagnahmte die Zelte am Hafen von Mersin«, sagt Üstek. Um die Zelte zurückzuerhalten, habe sich Mar-Def unter anderem an Abgeordnete der CHP (kemalistisch-sozialdemokratische Republikanische Volkspartei, jW) gewandt, doch die Zelte blieben beschlagnahmt. Erst als sich auch das niederländische Außenministerium einschaltete, habe sich die staatliche Katastrophenschutzbehörde gemeldet. Der Vorsitzende des Cem-Hauses (alevitisches Kulturzentrum, jW) von Narlı sei nach Kahramanmaraş gefahren, um die Zelte dort abzuholen. Doch statt den erwarteten Schutzzelte hätte Afad ihnen zehn beschädigte Zelte gegeben: »Die Kollegen haben versucht, eines dieser Zelte aufzubauen, vergeblich. Sie haben uns Müll ausgehändigt. Sogar unbeschädigt wären diese nur 30 Euro wert.«

Yılmaz Kahraman, Landesgeschäftsführer des Bundes der alevitischen Jugendlichen NRW, berichtet von ähnlichem: »In einem kurdisch-alevitischen Dorf in Pazarcık habe unter den Trümmern eines Hauses eine Familie nach Hilfe gerufen. Die Nachbarn, die das hörten, benachrichtigten staatliche Stellen, aber sie konnten über drei Tage hinweg niemanden erreichen. Diese Menschen sind unter den Trümmern gestorben.« Das brisante an diesem Fall: »Zwei Tage später, als ein Hilfs-Lkw aus Deutschland in dieses Dorf gefahren ist, kamen die staatlichen Behörden auf einmal doch und haben gesagt: Sie können hier nicht ohne unsere Anweisungen Hilfe verteilen.«

Weil die Lieferung von Zelten nicht erlaubt wurde und Unterkünfte fehlten, flohen 300.000 Menschen – mehrheitlich kurdische Aleviten – aus der Erdbebenregion nach Europa und in die Metropolen. Überlebende starben einen Erfrierungstod. Es liegt der begründete Verdacht nahe, dass die herrschenden Parteien AKP und MHP über ihren Einfluss in der Afad Erdbebenhilfe in von der Opposition regierten Städten wie Antakya und in kurdisch-alevitischen Regionen gezielt unterließen und sogar blockierten, um die Überlebenden zu vertreiben.

Hintergrund: Aleviten

Die Wurzeln des Alevitentums gehen auf die vorchristlichen Kulte Anatoliens und Mesopotamiens zurück. Das Alevitentum betont den religiösen Weg, in dem durch Vervollkommnung Erleuchtung erreicht wird. Diese Vollkommenheit könne jeder Mensch erreichen, wenn er in Frieden, Nächstenliebe sowie in Einklang und Harmonie mit der Natur lebt. »Wir lieben die Schöpfung um des Schöpfers willen« ist ein Zitat aus der alevitischen Lehre und demonstriert eine pantheistische Gottesvorstellung. Islamische Anpassungen wie das Bekenntnis zur Anhängerschaft Imam Alis deuten Historiker als Reaktionen auf den muslimisch-osmanischen Assimilationsdruck. Weil die meisten Aleviten zudem auch Kurden waren, sahen sie sich oft drastischer Verfolgung ausgesetzt. Bereits im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts gab es Fatwas, islamische Rechtsgutachten, die das Alevitentum verboten. Daraufhin zogen sich die Aleviten in die Bergregionen Anatoliens und Mesopotamiens zurück. Die Tabuisierung der alevitischen Identität verschärfte sich unter der Türkischen Republik. In der Provinz Kahramanmaraş, die im Epizentrum der Erdbeben vom 6. Februar 2023 liegt, verübten im Dezember 1978 türkische Faschisten ein Pogrom: Aleviten, Linke und Gewerkschafter wurden gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Die Polizei griff nicht ein. Nach dem Putsch vom 12. September 1980 verfolgte das Militär insbesondere kurdische Aleviten, die als linksradikal oder sozialistisch galten. Viele von ihnen flohen vor Folter und Gefangenschaft ins Ausland. In Europa leben derzeit ca. 1,5 Millionen Aleviten. (aer)

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