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Aus: Ausgabe vom 05.03.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Kommunalwahlen in der Türkei

Kandidat des Kapitals

Kommunalwahlen in der Türkei: AKP-Bewerber für das Bürgermeisteramt in Istanbul ist ein Mann der Baubranche
Von Emre Şahin
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»Volle Kraft voraus«, heißt es auf dem Wahlplakat von Bürgermeister Ekrem İmamoğlu (l.) in İstanbul-Kadıköy (2.3.2024)

Am 31. März sind die Bürgerinnen und Bürger der Türkei dazu aufgerufen, landesweit die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zu bestimmen. Doch im Vergleich zur Kommunalwahl vor fünf Jahren herrscht keine Euphorie mehr. 2019 gab es noch Aufbruchsstimmung in der Opposition. Es bestand die berechtigte Hoffnung, in Metropolen wie Istanbul und Ankara die Regierungspartei AKP zu schlagen und die in kurdischen Gebieten unter staatliche Zwangsverwaltung gestellten Rathäuser zurückzuerobern. Doch nach den verlorenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai vergangenen Jahres hat sich längst Ernüchterung und Zermürbung breitgemacht.

Das wirklich Spannende an dieser Wahl ist, ob es die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP schaffen wird, die Kontrolle über Istanbul zu verteidigen. Zum einen wäre es für Bürgermeister Ekrem İmamoğlu als Gegenkandidaten zur AKP bei den kommenden Präsidentschaftswahlen ein enormer Push. Zum anderen galt die 15-Millionen-Einwohner-Metropole als das größte Stück des Kuchens, das die AKP in ihrem korrupten Patronagesystem verteilen konnte. Doch derzeit hat weder die mit der AKP verbandelte Baubranche freien Zugriff auf die Stadt, noch die von der islamokapitalistischen Regierung bevorzugten Investoren aus den Golfstaaten. International lässt sich nichts besser vermarkten als Istanbul, um frisches Geld in die leeren Kassen des wirtschaftlich gebeutelten Landes zu bringen, so die Logik der AKP.

Wohl als Botschaft an die genannten Nutznießer hat sie deshalb Murat Kurum als Gegenkandidaten zu İmamoğlu nominiert. Anders lässt sich die Wahl Kurums, dessen Charismapunkte im Minusbereich liegen dürften, schwer erklären. Der Politiker arbeitete zunächst als Direktor für die staatliche Wohnungsbehörde TOKİ, dann als Manager der staatlichen Immobilienenunternehmen Emlak Konut GYO A.Ş., ehe er während der letzten Legislaturperiode Minister für Umwelt und Stadtplanung wurde. Zwischenzeitlich arbeitete er für das Unternehmen Gestas, das wegen Verbindungen zur islamistischen Gülen-Sekte nach dem Putschversuch 2016 geschlossen wurde, was Kurum in seinem öffentlich einsehbaren Lebenslauf allerdings wohlweislich unterschlagen hat. Kurzum: Dreh- und Angelpunkt seiner gesamten Karriere war die Baubranche.

In diesem Bereich war er zuständig für die Bildung neuer bzw. Festigung bestehender regierungsnaher Kapitalgruppen – Landverkauf kann Kurum. Wenig überraschend erscheint seine Unterstützung für Bebauungspläne am Saldasee, dem saubersten See des Landes, oder das Ökozidprojekt »Kanal Istanbul«, das die europäische Seite der Metropole in eine Insel verwandeln würde. Als Minister legalisierte er Hunderttausende illegaler Bauten, die mangels ausreichendem Schutz beim Erdbeben im vergangenen Jahr einstürzten. Auch beim Erdrutsch in einer Goldmine in Erzincan im Februar, bei der neun Arbeiter starben, ist Kurum nicht unbeteiligt. Unter dem Genehmigungsdokument zur Kapazitätserhöhung der Mine findet sich seine Unterschrift.

Im aktuellen Wahlkampf vergeht kaum ein Tag, an dem Kurum nicht patzt. Mal wirft er İmamoğlu versehentlich vor, sich nur an 87 Prozent seiner Wahlversprechen gehalten zu haben (er wollte 13 Prozent sagen), ein anderes Mal legte er die von der Bevölkerung vermutete Lüge der Regierung offen, indem er von 130.000 Erdbebentoten sprach, was weit mehr als das Doppelte dessen ist, was Ankara offiziell bekanntgegeben hat (53.000). Auch die Zuordnung der Stadtteile Istanbuls zu Asien und Europa wollte nicht klappen. Schließlich missbrauchte der AKP-Mann noch das Leid der Palästinenser, indem er behauptete, die Menschen in Gaza würden sich über seinen Wahlsieg freuen. Verantwortlich für Kurums Wahlkampagne ist übrigens die israelische PR-Firma Total Media Solutions, die auch weitere AKP-Kandidaten managt.

In Kurums Wahlkampf soll daher Recep Tayyip Erdoğan Fahrt bringen, der als offiziell neutrales Staatsoberhaupt auf keinem Wahlzettel steht, wenn auch seine Präsenz auf Plakatwänden und Wahlkampfveranstaltungen anderes suggeriert. Erdoğans Auftritte folgen immer dem gleichen Muster und sind wie die kaputte Jukebox, die ständig dieselben Lieder spielt. Erstens die Opferrolle: In den Neunzigern sei es unter der CHP sehr schlimm gewesen. Zweitens die nun »starke Türkei«. Kürzlich präsentierte der Präsident voreilig den Testflug des neuen türkischen Kampfjets »KAAN«. Drittens Einmalzahlungen: Rentner sollen im März offiziell wegen des Fastenmonats Ramadan 1.000 Lira mehr erhalten. Viertens Drohungen: In Hatay sagte er, sollte die vom Erdbeben zerstörte Provinz erneut einen Bürgermeister der Opposition wählen, werde die Stadt weiterhin keine Hilfen erhalten. In Ordu drohte er, nicht von der AKP regierten Provinzen das Erdgas abzustellen; Fünftens Repression: betroffen davon zumeist Journalisten, linke Aktivisten und Politiker in Kurdistan. Und schließlich fällt auf, dass, wann immer Wahlen in der Türkei anstehen, es zu Anschlägen kommt. Diesmal traf es eine katholische Kirche und ein Gerichtsgebäude.

Kopfschmerzen bereitet der AKP vor allem die von radikalen Islamisten gebildete Neue Wohlfahrtspartei (YRP). Auf jede Stimme angewiesen, holte Erdoğan diese Kleinpartei für die Präsidentschaftswahlen in sein Bündnis und brachte ihr so einen Schub: Sie gewann mit 1,5 Millionen Stimmen knapp drei Prozent, davon 300.000 in Istanbul. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass İmamoğlu die letzte Wahl denkbar knapp mit zunächst 13.000 Stimmen Vorsprung gewann. Aktuelle Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen am 31. März hin, und sehen mal Kurum, mal İmamoğlu mit jeweils einem Prozent in Führung.

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