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Aus: Ausgabe vom 24.12.2025, Seite 9 / Schwerpunkt
Geopolitik

Die Politik des Regelbruchs

Globale Verwerfungen. Mit Beginn der Amtszeit von Donald Trump ist die internationale Lage noch unübersichtlicher geworden
Von Jörg Kronauer
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Der Wahn von den goldenen Zeiten, die unter seiner Ägide anbrechen werden, hat die Welt etwas unberechenbarer gemacht. US-Präsident Donald Trump mit seiner Gattin Melania im Weißen Haus, Washington, D. C., am 4. Juli 2025

Nicht, dass die Welt am 19. Januar 2025, dem Tag vor dem Amtsantritt von Donald Trump, ein friedlicher, harmonischer Ort gewesen wäre. Ausgewachsene, teils genozidale Kriege gab es auf drei Kontinenten. Spannungen, Konflikte, Krisen wüteten allerorten. Und Aussicht auf wirkliche Besserung? Die gab es ganz unabhängig von Trump kaum. Das lag nicht nur, aber auch daran, dass einige der Konflikte und Kriege stark durch die großen tektonischen Verschiebungen in den globalen Kräfteverhältnissen bedingt sind. Der alte transatlantische Westen befindet sich in einem langfristigen relativen Abstieg – EU-Europa stärker als die USA –, während vor allem China, aber auch einige weitere Staaten des globalen Südens teils rasant aufsteigen. Der Westen tut alles, um diese Entwicklung zu stoppen. Dies lässt eine ganze Reihe Konflikte kontinuierlich eskalieren, vor allem die mit Russland und China.

Zollpeitsche

Und dennoch: Seit dem 20. Januar 2025 ist die Welt diversen zusätzlichen Erschütterungen und Verwerfungen ausgesetzt. Dem ist so, obwohl man der Trump-Regierung eines lassen muss: Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten würde sie wohl tatsächlich gerne beenden. Natürlich nicht, weil der Immobilienmilliardär und Kryptobaron im Weißen Haus der Friedensfürst ist, als der er sich permanent und penetrant inszeniert. Kriege andernorts binden Kräfte, die Trump voll und ganz auf den großen, entscheidenden Machtkampf gegen das einzige Land fokussieren will, das in absehbarer Zeit die Vereinigten Staaten auf Platz zwei in der Welt verdrängen kann: China. Trump positioniert die USA – wie schon die Biden-Regierung – weiter militärisch gegen die Volksrepublik. Insbesondere aber hat er den Wirtschaftskrieg gegen sie intensiviert. Dabei musste er sich allerdings zuletzt auf einen Waffenstillstand einlassen, den Beijing mit seinen Exportkontrollen auf seltene Erden erzwang.

Zu neuen Verwerfungen haben die Bestrebungen der Trump-Regierung geführt, die USA zu reindustrialisieren. Eine Reindustrialisierung strebte ebenfalls schon die Biden-Regierung an. Sie tat das allerdings vor allem mit Zuckerbrot – mit gigantischen Investitionsprogrammen –, die unter anderem darauf zielten, Konzerne aus Europa zum Standortwechsel in die USA zu bewegen. Trump dagegen schwingt die Zollpeitsche, und zwar gegen alle Welt. Das stürzt Europa noch tiefer in die Krise, es erschüttert aber auch zahlreiche Länder im globalen Süden, die bislang mit Exporten in die Vereinigten Staaten Geld verdienten. Allein in Indien sind etwa in der Textil- und in der Diamantenindustrie Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit bedroht oder schon betroffen. Weltweit kommen die gravierenden Folgen der Streichung von Entwicklungs- und humanitärer Hilfe hinzu. Der US-Publizist Atul Gawande, selbst praktizierender Arzt, schätzte die Zahl der Menschen, die wegen gekürzter Hilfen an Hunger oder vermeidbaren Krankheiten starben, kürzlich auf Hunderttausende.

Recht des Stärkeren

Die Trumpschen Zölle haben zudem strukturelle Folgen, die sich noch kaum absehen lassen. Wirtschaftsscharmützel, die Zölle beinhalteten, gab es schon immer – man denke etwa an den alten transatlantischen Zwist um Subventionen für Airbus beziehungsweise Boeing, der zuweilen mit harten Zollbandagen ausgetragen wurde. Letztlich hielt sich Washington lange an die Regeln der Welthandelsorganisation WTO, deren Streitschlichtung es meist akzeptierte, solange es in anderen Fällen von ihr profitierte. Erste Schritte zur Abkehr von der WTO leitete bereits Barack Obama ein. Trump jedoch hat ihr Ende – jedenfalls, was die USA anbelangt – nun mit seinen vollkommen regellosen Zöllen besiegelt. Wie lange der Rest der Welt sich noch an WTO-Regeln hält – und ob die Weltwirtschaft insgesamt in eine Ära offener Willkür übergeht –, muss man sehen. Trumps Motiv: Von Regellosigkeit profitiert der Stärkere. Allerdings löst das Vorgehen der Vereinigten Staaten auch Gegenbewegungen aus. Ein Beispiel: Indien ist bemüht, seine Exporte nach Russland auszuweiten, um weniger auf Exporte in die USA angewiesen zu sein.

Zu völliger Regellosigkeit geht die Trump-Regierung auch beim Einsatz militärischer Mittel über. Das ist – wie die Abkehr von der WTO – nicht völlig neu: Kriegslegitimationen wurden in Washington bei Bedarf stets zusammengelogen; die US-Drohnenmorde im sogenannten Antiterrorkrieg brachen auch schon unter Obama das internationale Recht. Doch hielt Washington es bislang noch für ratsam, vor Überfällen auf ein fremdes Land zumindest gefälschte Bildchen angeblicher irakischer Chemiewaffenlabore zu präsentieren oder eine, wenngleich windige, juristische Legitimation für Drohnenangriffe, die zu zivilen Todesopfern führen, vorzulegen. Trump genügt es, zur Rechtfertigung der Bootsmorde und eines etwaigen Überfalls auf Venezuela kompletten Unsinn über Drogen zu schwadronieren. Im Zweifelsfall galt das internationale Recht für die Stärkeren noch nie. Washington geht nun aber dazu über, es gänzlich sturmreif zu schießen. Die US-Sanktionen gegen das Personal internationaler Gerichtshöfe bestätigen das nur.

Stichwort Bootsmorde: Schwere Erschütterungen stehen wohl Lateinamerika bevor. Dank ihrer Frackingoffensive nicht mehr von Rohstoffen aus Nahost abhängig, beschränkt die Trump-Regierung sich darauf, mit Hilfe Israels und der arabischen Golfstaaten eine gewisse, wenn auch labile Kontrolle über die Region zu etablieren, um China so weit wie möglich von dort fernzuhalten. Zurückgedrängt werden soll die Volksrepublik jetzt in Lateinamerika, für das die US-Regierung ausdrücklich auf die Monroe-Doktrin aus dem Jahr 1823 zurückgreift – ergänzt, wenigstens verbal, um einen nicht genau definierten »Trump-Zusatz«: Personenkult muss sein. Eine der ersten Maßnahmen der Trump-Regierung bestand darin, zu versuchen, zwei Häfen am Panama-Kanal dem Einfluss eines Konzerns aus Hongkong zu entziehen; das ist ihr bis heute nicht gelungen. Wenn sie nun in ganz Lateinamerika ultrarechte Politiker an die Regierung zu bringen oder dort zu halten sucht, liegt das auch daran, dass sie sich von ihnen größeren Abstand zu Beijing erhofft. Auch in Venezuela geht es keinesfalls ausschließlich um Erdöl, sondern auch um Caracas’ Bindungen an Beijing.

Zu heftigen Verwerfungen führt die Politik der Trump-Regierung in der EU. Die neuen US-Zölle machen nicht zuletzt der deutschen Wirtschaft schwer zu schaffen: Im Oktober brachen ihre Exporte in die USA um 7,8 Prozent gegenüber dem Vormonat ein; mit einem weiteren Rückgang wird gerechnet. Zudem gerät die Industrie – vor allem die Chemie – auch im eigenen Land erheblich unter Druck, weil auf Lieferungen aus den USA in die EU jetzt keine Zölle mehr erhoben werden. Hinzu kommen eine steigende Abhängigkeit von US-Flüssigerdgas und – zumindest kurz- bis mittelfristig – eine fortbestehende Abhängigkeit von mehreren US-Waffensystemen. Zugleich provoziert Washington auch hier eine Gegenbewegung: Die Bestrebungen, ökonomisch wie militärisch von den USA unabhängig zu werden, werden auch in der EU ernsthafter verfolgt. In einigen Sektoren, etwa in der Drohnenfertigung, scheinen sie zum Erfolg zu führen. Die Frage ist allerdings, ob das auch auf weiteren strategisch wichtigen Feldern gelingt.

Faschistenförderung

Die Lage, zu der die Erschütterungen und Verwerfungen der Ära Trump bislang geführt haben, ist – vorsichtig formuliert – komplex. Sie wird nicht erleichtert dadurch, dass Trump nicht nur in Lateinamerika offen auf Kräfte der extremen Rechten setzt und ihnen von außen kräftig unter die Arme greift. Dies tun die US-Regierung und ihr nahestehende Milieus und Organisationen der äußersten Rechten – von Elon Musk bis hin zur Heritage Foundation – auch in Europa. Das Spektrum der politischen Kreise, die sie fördern, reicht von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán über die AfD bis zu den Schlägerbanden um den britischen Gewohnheitskriminellen Stephen Yaxley-Lennon aka Tommy Robinson. Dies schwächt die EU und damit einen potentiellen Rivalen. Es kommt hinzu, dass Washington beginnt, nicht mehr nur bei Bedarf zu lügen, sondern gleich ein alternatives Wahrheitssystem zu etablieren: Wer sein vermeintliches Wissen aus X und Grokipedia bezieht, ist mit MAGA-Quark, der wiederum die Herrschaft der äußersten US-Rechten stützt, rundum versorgt. Die Folgen, die daraus entstehen – auch für die internationale Politik –, sind noch kaum abzusehen.

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